Das Paradies
ich nicht begeistert, als mein zarter kleiner Schmetterling mir sagte, sie sei schwanger? Und war nicht mein erster Gedanke gewesen: Jetzt kann ich endlich etwas vorweisen, was mir mein Vater nicht gegeben hat, sondern was ich selbst geschaffen habe?«
Ihm wurde wieder übel. Er umklammerte die Kühlerhaube und würgte, bis sein Magen völlig leer war und er nur noch Galle spuckte.
Als Ibrahim sich schließlich aufrichtete und nach Luft rang, wurde sein Kopf klar. Blitzartig, wie in einer Eingebung, erkannte er die Wurzel seiner Qualen. Und was er begriff, entsetzte ihn zutiefst:
Nicht der Tod meiner Frau treibt mich zum Wahnsinn, sondern mein Versagen gegenüber meinem Vater!
Ibrahim wünschte sich, er hätte weinen können, aber so wie seine Bitte um Vergebung nicht erhört worden war, wurden ihm auch keine Tränen gewährt.
Er lehnte sich an den Wagen und versuchte festzustellen, wie weit die Räder in der schlammigen Erde standen. Konnte er den Wagen auf die Straße zurückfahren? Gab es in der Nähe ein Dorf und einen Brunnen?
Plötzlich sah er nur wenige Schritte entfernt eine Gestalt. Er hätte schwören können, daß das Mädchen einen Augenblick zuvor noch nicht dagewesen war. Die Kleine war barfuß, hatte eine dunkle Haut, die beinahe so schwarz war wie die Erde, und trug ein langes schmutziges Gewand. Auf dem Kopf hielt sie einen großen irdenen Krug. Es hatte den Anschein, als sei sie in diesem Moment aus der schwarzen, feuchten Erde geschaffen worden.
Ibrahim starrte sie verblüfft an. Er sah, daß es eine Fellachin, ein Bauernmädchen, war. Sie konnte nicht viel älter als zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Sie musterte ihn mit großen Augen, aber eher in unschuldiger Neugier und weniger ängstlich oder vorsichtig. Ibrahim blickte auf den Krug.
»Gottes Friede und Gnade seien mit dir«, sagte er heiser mit trockenem Mund. »Gibst du einem Fremden Wasser, der am Verdursten ist?«
Zu seiner Überraschung trat sie auf ihn zu, hob den Krug vom Kopf und neigte ihn soweit, daß Wasser herausfloß. Ibrahim streckte sofort die Hände aus, um das frische Flußwasser aufzufangen. Er erinnerte sich, daß bei den wenigen Besuchen auf seinen Baumwollplantagen im Nildelta die Bauern, die für ihn arbeiteten, immer sehr ängstlich gewesen waren und Frauen und Mädchen bei seinem Anblick davonliefen.
Das Wasser war einfach himmlisch! Er trank aus den gewölbten Händen, ließ es sich dann über den Kopf, das Gesicht und in den Mund laufen. »Ich habe den teuersten Wein getrunken, den es auf der Welt gibt«, sagte er und fuhr sich mit den nassen Händen durch die Haare, »aber dieses Wasser schmeckt besser. Mein Kind, du hast mir das Leben gerettet.«
Als er ihren verwirrten Ausdruck sah, wurde ihm bewußt, daß er englisch gesprochen hatte. Er mußte lächeln – seltsam bei seinem Kummer –, und er sprach wie unter einem Zwang weiter. »Meine Freunde sagen, ich sei vom Glück begünstigt.« Er trank noch mehr Wasser, kühlte sich das Gesicht und atmete erleichtert auf. Er sprach wieder englisch, als er sagte: »Jawohl, vom Glück begünstigt, weil ich keine lebenden Brüder habe und mein Vater mir alles vererbt hat. Deshalb bin ich ein sehr reicher Mann … ich hatte Brüder, denn mein Vater hatte mehrere Frauen, bevor er meine Mutter heiratete. Von diesen Frauen hatte er drei Söhne und vier Töchter. Aber bei einer Grippeepidemie starben zwei Söhne und eine Tochter. Damals war ich noch nicht geboren. Mein jüngster Bruder ist im Krieg gefallen und eine meiner Schwestern an Krebs gestorben. Die noch lebenden Schwestern haben nicht geheiratet und wohnen jetzt bei mir im Haus in der Paradies-Straße. Ja, ich bin der einzig lebende Sohn meines Vaters, und das ist eine große Verantwortung.«
Ibrahim blickte zum Himmel hinauf, als erwarte er, im unendlichen Blau das Gesicht von Ali Raschid zu sehen. Er atmete tief die klare Morgenluft ein und spürte, wie sein Herz sich zusammenkrampfte. Tränen stiegen ihm in die Augen. Fatheja war tot. Sein kleiner Schmetterling war gestorben. Schluchzend streckte er die Hände aus, und das Mädchen füllte sie ihm mit Wasser. Er benetzte damit seine Augen und drückte die nassen Finger gegen den schmerzenden Kopf.
Sein Blick fiel auf das Mädchen, und er dachte, sie ist sogar hübsch. Aber er wußte, das schwere Leben der Fellachen würde sie altern lassen, noch ehe sie dreißig war. »Ich habe eine Tochter«, redete er weiter und kämpfte mit seiner Trauer, die
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