Das Paradies
plötzlich, was sie tat, und ihre Gedanken kreisten um Abdu. Meist wurde sie dann von ihrer Mutter zurechtgewiesen, aber nicht immer. Umma seufzte auch manchmal, schüttelte den Kopf und lächelte ihre Tochter seltsam traurig an.
Die Sonne war untergegangen. Sarah hatte es nicht bemerkt. Die Nacht brach an, und sie wußte, Abdu würde nicht zum Stall kommen. Er feierte mit den anderen. Sarah streckte sich wehmütig auf dem Stroh aus, hörte das Lachen der ausgelassenen Gäste und schlief ein.
Ibrahim schlug im fahlen Morgenlicht langsam die Augen auf. Die Sonne hatte sich wie eine Frau verschleiert. Er blieb bewegungslos sitzen und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er war. Sein Körper schmerzte, und bei jedem Herzschlag fuhr ein heftiger Stich durch seinen Kopf. Die Zunge war geschwollen und der Mund trocken. Er hatte schrecklichen Durst. Als er sich bewegte, wurde ihm übel. Er stellte fest, daß er im Auto saß, das von der Straße abgekommen war. Um ihn herum stand hohes grünes Zuckerrohr.
Was war geschehen? Wieso befand er sich hier? Und wo genau war er?
Langsam stellte sich die Erinnerung wieder ein: die Nachricht im Spielcasino … zu Hause seine Frau tot im Bett … die verzweifelte lange Fahrt durch die Nacht … der Wagen, der ins Schleudern geraten war und …
Ibrahim stöhnte und dachte erschrocken, ich habe Gott verflucht!
Mühsam drückte er die Fahrertür auf und wäre beinahe auf die feuchte Erde gefallen. Schwankend blieb er stehen. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Nach dem Fluch mußte er sich wieder hinter das Steuer gesetzt haben und eingeschlafen sein … der Champagner! Oh ja, er hatte viel zuviel Champagner getrunken … Es wurde ihm wieder übel. Er glaubte zu verdursten.
Er hielt sich mit einer Hand am Wagen fest und übergab sich. Seine Frau war tot. Zu seiner Beschämung sah er, daß er noch immer den Frack trug und den weißen Seidenschal um den Hals geschlungen hatte, als sei er gerade auf die Terrasse des Casinos an die frische Luft gegangen. Ibrahim hatte sich in seinem ganzen Leben noch nicht so elend gefühlt. Er hatte Schande über seine verstorbene Frau gebracht, Schande über seine Mutter, Schande über seinen Vater.
Die Sonnenstrahlen lösten langsam den morgendlichen Dunst auf. Ibrahim glaubte zu spüren, wie sich über ihm der endlose blaue Himmel auftat, und er fühlte den Blick seines Vaters auf sich gerichtet. Der strenge Ali Raschid sah mißbilligend vom Himmel auf seinen Sohn herab. Ibrahim wußte, daß sein Vater gelegentlich Alkohol getrunken hatte. Aber Ali wäre nie ein solcher Schwächling gewesen, sich anschließend zu übergeben. Sein ganzes Leben lang hatte Ibrahim versucht, den großen Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden und seine Anerkennung zu finden. »Du wirst in England studieren«, hatte Ali zu seinem Sohn gesagt, und Ibrahim war nach Oxford gegangen. »Du wirst Arzt werden«, hatte der Vater ihm befohlen, und der Sohn hatte sich gefügt. »Du wirst im Gefolge des Königs eine Stellung bekommen«, hatte ihm Ali, der Gesundheitsminister, mitgeteilt, und Ibrahim hatte sich bei ihm für diese Ehre und Auszeichnung bedankt. Und schließlich hatte der Vater ihm gesagt: »Du wirst die alte Tradition unserer Familie fortsetzen und mir viele Enkelsöhne schenken.« Aber in diesem demütigenden Augenblick schienen alle seine Bemühungen, es dem Vater recht zu machen, vergeblich gewesen zu sein.
Ibrahim ließ sich auf die fruchtbare Erde sinken und bat Gott aus ganzem Herzen um Vergebung, weil er seine Mutter im Stich gelassen hatte und nicht mit ihr die Totenwache hielt und für das Seelenheil seiner Frau betete, und weil er blindlings an diesen trostlosen Ort gefahren war und den Allmächtigen in unverzeihlicher Anmaßung verflucht hatte. Aber Ibrahim mußte sich eingestehen, daß er in seinem Innersten nicht demütig war. Und als er zu beten versuchte, stieg das strenge Gesicht seines Vaters vor ihm auf und verwirrte ihn. Glauben alle Söhne, fragte er sich beklommen, das Gesicht ihrer Väter sei das Gesicht Gottes?
Er sah sich um. Wo war der Nil? Er mußte sich unbedingt das Gesicht waschen und etwas trinken. Über dem hohen Zuckerrohr, das sich im Wind wiegte, hörte er die Stimme seines Vaters: »Eine Tochter! Du bist nicht einmal in der Lage, das zu vollbringen, was jeder einfache Bauer kann!« Ibrahim wollte sich im Angesicht des Himmels verteidigen und erwiderte: »Habe ich es nicht versucht, einen Sohn zu zeugen? War
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