Das Paradies
Rhythmus klatschten. Beifall wurde laut, als das Mädchen zu der Musik verführerisch Hüften und Brüste bewegte. Sie tanzte den Beledi, das arabische Wort für »Volk«. Der Beledi war seit alten Zeiten Ausdruck der Sexualität und weiblicher Macht und veranschaulichte im Kreisen des Unterleibs und der zuckenden Schultern den Beischlaf und die Geburt. Das tanzende Mädchen war so alt wie Sarah. Jussufs Schwester war nicht verheiratet und deshalb noch Jungfrau. Aber ihr Tanz war erotisch und aufreizend, denn damit erwies sie der sinnlichen, natürlichen Seite des Lebens die gebührende Ehre. Die Männer durften nicht zusehen. Die Frauen tanzten für die Frauen. Bei solchen Anlässen tanzten nacheinander alle Mädchen, und die anwesenden Mütter konnten sich Frauen für ihre Söhne auswählen, da in den meisten Fällen Frauen die Ehen stifteten. Eine gute Tänzerin konnte leicht Kinder gebären; ein attraktives Mädchen würde ihrem Mann gefallen und deshalb viele Kinder bekommen. Die mögliche Braut mußte also ihre Kraft und Ausdauer beim Beledi unter Beweis stellen. Eine schlechte Tänzerin taugte auch nicht zur Arbeit auf den Feldern.
Sarah sah den Tanzenden zu, während sie vor der Lehmmauer das Lamm über dem Feuer drehte. Das Fleisch mußte ständig mit Öl bestrichen werden. Ihr Gesicht wurde heiß, und der Arm schmerzte, aber sie tat diese Arbeit gern. Nur an besonderen Festen, wie zum Beispiel dem Eid el Kibr, das zur Erinnerung an den Propheten Abraham gefeiert wurde, der seinen Sohn Isaak opfern wollte, gab es Fleisch zu essen.
Sarah hörte aufmerksam den Gesprächen der Frauen zu. Sie redeten über Mustafas Frau, die Frau des Fischers, die nicht zum Fest gekommen war. Nach vier Jahren Ehe hatte sie noch immer keine Kinder. Deshalb nahm sich Mustafa eine zweite Frau, die ihm bald einen Sohn schenkte. Das Leben der ersten Frau wurde unerträglich, denn sie mußte die zweite Frau und deren Sohn bedienen und hatte Mustafas Liebe verloren. Eines Tages fand man das Kind tot im Bewässerungskanal. Es war ertrunken. Die Mutter verlor vor Kummer beinahe den Verstand, und alle sagten, die erste Frau sei plötzlich verdächtig zufrieden. Die Polizei wurde gerufen, aber die Familie der zweiten Frau beschuldigte nicht die andere Frau, sondern Mustafa. Die Polizei erklärte, das sei unmöglich, denn kein Vater würde seinen eigenen Sohn ermorden. Auf diese Reaktion hatte die Familie gehofft, denn die Polizei stellte daraufhin die Untersuchungen ein, und die Familie der zweiten Frau würde auf ihre Weise Rache nehmen.
Die Frauen vertraten die Ansicht, es werde nicht lange dauern, bis es zu einem schlimmen Kampf zwischen den beiden Familien kam, und aus diesem Grund hatte man sie nicht zu Nazirahs Hochzeit eingeladen. Es geschah immer wieder, daß ein Fest zum Schauplatz blutiger Rache wurde.
Sarah vergewisserte sich, daß die großen Platten, von denen die Frauen gemeinsam aßen, nicht leer wurden. Sie wußte, es war eine Mißachtung, wenn ein Gast nichts mehr zu essen hatte. Es mußte soviel vorhanden sein, daß man zum Abschluß die Gäste mit den Resten nach Hause schickte. Da sich die Feuerstelle mit dem Spieß an der Mauer gegenüber der Haustür befand, konnte Sarah auch die Männer in der Hütte beobachten und nach Abdu Ausschau halten.
Das Gespräch der Männer klang erstaunlich ernst, während sie die Wasserpfeifen rauchten. Sarah hörte, daß Unzufriedenheit laut wurde. Scheich Hamid sprach über den Krieg und darüber, wie die Reichen in Kairo den Frieden feierten. Aber das Los der Bauern war unverändert hart, schimpfte der alte Scheich, für sie gab es nichts zu feiern. Dann sprachen sie leise über die Muslim-Bruderschaft. Es war eine geheime Vereinigung mit über einer Million Mitgliedern. Sie wollten die herrschende Pascha-Klasse stürzen, die nur aus fünfhundert Familien bestand, wie der Scheich erklärte. »Wir sind das reichste Land im Nahen Osten«, sagte der Scheich. Da er lesen und schreiben konnte und im Dorf als einziger ein Radio besaß, brachte man ihm große Achtung entgegen, und er informierte das Dorf über Neuigkeiten. »Aber wie wird der Reichtum verteilt?« fragte er zornig und zog eine Zeitung aus seiner Galabija, die er den Männern in der Runde zeigte, von denen noch keiner eine Zeitung in der Hand gehalten hatte und die deshalb sehr beeindruckt waren. »Hier steht geschrieben«, sagte der Scheich, »daß die Paschas weniger als ein halbes Prozent der Grundbesitzer ausmachen,
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