Das Paradies
ihn wie eine hohe, vom Sturm gepeitschte Welle unter sich zu begraben drohte. »In den Augen meines Vaters bin ich deshalb ein Versager. Er fand, Töchter seien eine Schande für einen richtigen Mann. Er übersah meine Schwestern und nahm sie nicht zur Kenntnis, als sie in seinem Haus heranwuchsen – besonders hart war er zu den beiden Töchtern, die ihm Khadija, meine Mutter, gebar. Die eine lebt bei mir. Sie ist eine junge Witwe und hat zwei kleine Kinder. Ich glaube, mein Vater hat sie nie in die Arme genommen. Aber ich finde, Töchter sind etwas Schönes … kleine Mädchen, die ihren Müttern gleichen …« Ihm versagte die Stimme, und er mußte husten.
»Du verstehst meine Worte nicht«, sagte er zu dem Bauernmädchen, »selbst wenn ich arabisch sprechen würde, könntest du mich nicht verstehen. Dein Leben ist einfach, und deine Zukunft steht bereits fest. Du wirst einen Mann heiraten, den deine Eltern für dich aussuchen. Du wirst Kinder bekommen, du wirst alt werden und vielleicht lange genug leben, um in deinem Dorf verehrt zu werden.« Ibrahim schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Das Mädchen wartete geduldig. Der Krug war leer. Sie hielt ihn in den Armen und sah zu, wie dem Fremde die Tränen über die Wangen liefen.
Als Ibrahim schließlich seine Fassung wiedergewann, dachte er über seine Lage nach. Vielleicht gelang es ihm mit der Hilfe des Mädchens, den Wagen auf die Straße zu fahren. Jetzt sprach er arabisch und erklärte ihr, daß sie mit ganzer Kraft gegen die Kühlerhaube drücken sollte, wenn er ihr ein Zeichen gab.
Als der Wagen wieder auf der befestigten Straße stand und der brummende Motor ihn aufzufordern schien, nach Hause zurückzufahren, lächelte Ibrahim traurig: »Gott wird dich für deine Güte belohnen. Ich möchte dir auch etwas geben.« Er griff in die Taschen, stellte aber fest, daß er kein Geld hatte. Da sah er, wie sie auf seinen seidenen Schal blickte. Er nahm ihn ab und reichte ihn ihr.
»Gott schenke dir ein langes Leben«, sagte er, »einen liebevollen Mann und viele Kinder.«
Nachdem der Wagen auf der Straße verschwunden war, drehte sich Sarah um und rannte zum Dorf zurück. Sie vergaß, daß der Krug leer war, sie dachte nur an das kostbare Geschenk in ihren braunen Händen – ein so reiner und zarter weißer Stoff wie die Daunen einer Gans. Der Schal war so weich und fühlte sich wie Wasser zwischen den Fingern an. Sie mußte unbedingt Abdu finden und ihm von der Begegnung mit dem Fremden erzählen. Sie mußte ihm den Schal zeigen. Erst danach wollte sie ihrer Mutter von dem Abenteuer erzählen und dann dem ganzen Dorf. Aber zuerst sollte Abdu ihre Geschichte hören, denn Sarah konnte immer noch nicht glauben, was sie erlebt hatte. Das Erstaunlichste war, daß der Fremde ihrem Abdu so ähnlich sah.
Als sie den kleinen Dorfplatz erreichte, wo die Bauern ihre Erträge zum Verkauf anboten, suchte sie Abdu, der manchmal hierher kam und etwas von den Feldern brachte. Eine Gruppe Frauen kam lachend und schwatzend auf den Platz. Da sie alle verheiratet waren, trugen sie schwarze Kaftane über ihren Kleidern. Zu Sarahs Überraschung sah sie unter ihnen ihre Schwester.
Sarah beobachtete, wie Nazirah dicke Zwiebeln begutachtete, und stellte fest, daß ihre Schwester sich irgendwie verändert hatte. Noch gestern war sie wie Sarah ein Mädchen gewesen, aber an diesem Morgen war sie eine Frau. Es muß daran liegen, daß sie geheiratet hat, fand Sarah und erinnerte sich daran, wie man ihre Unberührtheit überprüft hatte. War sie deshalb heute bereits auf wundersame Weise eine Frau geworden?
Sarah erinnerte sich plötzlich an den Schal des reichen Mannes und verbarg ihn schnell unter ihrem Kleid. Der Fremde war bestimmt ein Pascha gewesen, ein Herr, und gehörte zu denen, über die Scheich Hamid so erregt und zornig gesprochen hatte.
Sie hörte in ihrem Rücken Abdu lachen, drehte sich schnell um und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen, bevor die anderen sie sahen. Dann lief sie zu dem Stall hinter der Hütte, in der sie jetzt allein mit den Eltern lebte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Es wurde spät, und sie mußte noch einmal zum Fluß hinuntergehen, um den Krug zu füllen. Aber zuerst mußte sie sich beruhigen und das wunderbare Erlebnis mit Abdu teilen. Hoffentlich hatte er ihr Zeichen verstanden und würde ihr folgen. Als sie ihn in den Hof kommen sah, wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen. Aber sie blieb schüchtern stehen, und auch er
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