Das Paradies
die Mädchen und die jungen Frauen mußten zu Hause bleiben. Man hatte Bänke und Tische aus Walids Kaffeehaus aufgestellt und Lichterketten gezogen, an denen Spruchbänder mit der Aufschrift WILLKOMMEN NEUER DOKTOR und in Arabisch AHLAN WA SAHLAN hingen. In großen Töpfen dampften Bohnen, es gab Schüsseln mit frischem Gemüse und Obst. Daneben türmten sich Pyramiden aus Fladenbrot. Riesige Messingkrüge, die Süßholzwurzel- und Tamarindensaft enthielten, standen ebenfalls bereit. Bei Amiras Erscheinen verstummten alle.
»Das Dorf veranstaltet Ihnen zu Ehren ein Fest«, sagte Connor, als sie zwischen den Menschen hindurchgingen, die die neue Ärztin mit höflicher Zurückhaltung musterten. Der Anblick dieser Frauen in schwarzen Melajas, um die sich die kleinen Kinder drängten, und der Männer in Galabijas und Käppchen versetzte Amira in die Vergangenheit zurück. Jetzt empfand sie plötzlich die Erregung, die sie auf dem Flughafen erwartet hatte.
Vor ihrem inneren Auge schien ein Film abzulaufen. Sie war wieder in Kairo. Sie schlenderte mit Tahia, Zakki und Jasmina durch die alten Straßen, sie lachte, aß Schwarma-Brote und hatte die Vorstellung, die Zukunft sei etwas, das nur anderen Menschen widerfuhr. Sie war einen Augenblick lang wie benommen und legte die Hand auf die Stirn.
Die Dorfbewohner wichen scheu zurück, und obwohl sie lächelten, sah Amira ihren Gesichtern an, daß sie verwirrt waren. Ein bulliger Fellache in einer sauberen blauen Galabija trat vor und sagte: »Willkommen in Ägypten, Sajjida. Willkommen in unserem bescheidenen Dorf, dem Sie mit Ihrem Kommen Glanz verleihen. Gottes Friede und Segen seien mit Ihnen.« Aber Amira sah die Unsicherheit auch in seinen Augen. Und sie hörte, wie die Dorfbewohner murmelten: »Wie ist das möglich? Der Sajjid wird von einer Frau abgelöst? Sieh nur, wie jung sie ist! Wo ist ihr Mann?«
Amira erwiderte: »Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre, hier zu sein.« Die Menschen beobachteten sie abwartend. Es entstand eine Stille, die nur vom Flattern der Spruchbänder über den Köpfen der Menge gestört wurde. Amira blickte ruhig in die Gesichter, die sie umgaben. Sie wußte, welche Fragen die Dorfbewohner ihr gern gestellt hätten. Aber die Höflichkeit verbot es ihnen. Sie suchte nach einem Weg, das Eis zu brechen, und wandte sich einer Frau zu, die mit einem kleinen Kind auf dem Arm neben der Tür der Krankenstation stand. Es konnte nicht die Mutter sein, denn sie war dazu zu alt. Unter ihrem schwarzen Schleier sah Amira graue Haare.
Als die Frau bemerkte, daß Amira das Kind ansah, drückte sie es fester an sich und legte schützend ihre Melaja um das Kind.
Amira lächelte und fragte auf arabisch: »Ist das Ihr Enkelkind, Umma? Sie tun gut daran, das arme, häßliche Ding zu verbergen.«
Die Frau holte hörbar Luft, und die Umstehenden starrten Amira verblüfft an. Aber als die ältere Frau antwortete, lag in ihren Augen ein Anflug von Respekt. »Ich bin mit häßlichen Enkelkindern geschlagen, Sajjida. Es ist Gottes Wille.«
»Ich bin voller Mitgefühl für Sie, Umma.« Dann drehte Amira sich nach dem Dorfsprecher um und sagte: »Mit allem Respekt, ich habe gehört, wie Sie gesagt haben, ich sei jung. Wie alt bin ich Ihrer Meinung nach?«
»Bei den drei Göttern, Sajjida! Sie sind jung, sehr jung. Jünger als meine jüngste Enkeltochter.«
»Ich werde zweiundvierzig, wenn der Chamsîn wieder weht.«
Ein Murmeln ging durch die Menge, und Declan sagte: »Ich bringe Dr. van Kerk ins Haus, Khalid. Sie hat eine lange Reise hinter sich.«
»Das ist ein Pluspunkt für Sie«, sagte er, als sie das Haus betraten. »Ich hatte Sie ebenfalls für jünger gehalten.«
Amira folgte ihm in einen kleinen, spärlich möblierten Vorraum mit frisch gekalkten weißen Wänden. Sie sah einen großen Kühlschrank aus den Nasser-Jahren – damals galt noch die Devise: »Kauft ägyptische Waren!« –, eine neuere Karte des Nahen Ostens, auf der Israel als »besetztes palästinensisches Gebiet« bezeichnet wurde, und medizinische Fachbücher, darunter auch
Wenn man Arzt sein muß
von Grace Treverton.
Der Nubier verstaute gerade die letzten Medikamente im Kühlschrank. Als er die Tür schloß und sich aufrichtete, schien er den kleinen Raum auszufüllen. »Willkommen, Doktorin«, begrüßte er sie mit einer sehr angenehm klingenden Stimme.
»Ahlan wah sahlan«.
»Das ist Nasr«, sagte Connor. »Er ist unser Fahrer und Mechaniker. Khalid, der Dorfsprecher, gehört
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