Das Paradies
auch zu unserer Mannschaft. Khalid hat sechs Jahre die Grundschule besucht. Er ist unser Vermittler, wenn wir die Runde durch die Dörfer machen. Als Botschafter und Dolmetscher ebnet er uns sozusagen den Weg.«
Nasr verließ den Raum mit einer leichten Verbeugung.
»Ihr Zimmer ist dahinten«, sagte Declan. »Ich fürchte, es ist nicht gerade das, was ich Ihnen gerne anbieten würde …«.
»Das ist ein Palast im Vergleich zu …« Amira wurde es plötzlich schwindlig. Die Beine gaben unter ihr nach, und sie mußte sich am Kühlschrank festhalten.
»Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank?« fragte er und faßte sie am Arm.
»Schon in Ordnung«, murmelte sie. »Ich habe mir in Gaza Malaria geholt und bin in einem Londoner Krankenhaus behandelt worden.«
»Man hat Sie zu früh entlassen.«
»Ich wollte doch hierher, Dr. Connor, und Ihnen helfen …«
Er lächelte. »Glauben Sie nicht, es ist Zeit, daß Sie mich Declan nennen?«
Amira spürte seine Hand auf ihrem Arm. Er stand so dicht vor ihr, daß sie über einer Augenbraue eine kleine Narbe entdeckte. »Es ist schon alles in Ordnung«, erwiderte sie und fügte hinzu, »Declan«. Es gefiel ihr, seinen Namen auszusprechen.
Er blickte ihr einen Herzschlag lang in die Augen. Dann ging er zur Tür und sagte: »Die Dorfbewohner warten auf Sie. Erst dann kann das Fest beginnen.«
»Bitte sagen Sie ihnen, ich bin in ein paar Minuten draußen.«
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand Amira im Halbdunkel und dachte: Er hat sich verändert. Warum?
In seinem letzten Brief, den sie vor vier Jahren erhalten hatte, war er noch der alte Connor gewesen – witzig, ehrgeizig, ein Abenteurer. Aber seitdem war etwas geschehen. Sie spürte seine Bitterkeit. Hinter seinen Worten lagen Pessimismus und Resignation. Das hätte sie Declan Connor nie zugetraut.
Hat es mit dem Tod seiner Frau zu tun, fragte sie sich.
Wie
war Sybil gestorben?
Amira blickte sich in dem kleinen Sprechzimmer um. Hier würde sie einiges ändern. Sie lächelte – Stühle, ein Wandschirm und vielleicht ein paar Grünpflanzen. Sie dachte an ihren Vater, an seine Praxis, und das überraschte sie. Seit sie für die Treverton-Stiftung arbeitete, hatte sie das unter primitivsten Bedingungen getan. Ständig gab es von allem Notwendigen zuwenig – vor allem zuwenig Personal und zuwenig Medikamente. Aber hier in Al Tafla mußte sie zum ersten Mal an ihren Vater denken.
Hatte er noch immer seine Praxis gegenüber dem Roxy-Kino? Sie wünschte sich, er wäre hier bei ihr, in diesem winzigen Raum, und sie könnte ihn um Rat fragen. Er würde ihr bestimmt helfen, aus dem, was sie hier vorgefunden hatte, das Beste zu machen.
Sie lächelte.
Vielleicht müssen wir in die Dörfer gehen und sehen, wie es dort ist. Wenn alle in die Stadt kommen, dann kann keiner mehr in Frieden leben …
Ja, das hatte sie damals gedacht, als ihr Vater die Wunde des Jungen der armen Fellachin versorgte und ihn gegen Wundstarrkrampf impfte.
Nun ja, jetzt hatte sie die Möglichkeit, etwas von diesen Vorsätzen zu verwirklichen. Warum denke ich eigentlich an meinen Vater, überlegte sie. Und plötzlich wußte sie es. Ich bin wieder in Ägypten. Ich bin wieder zu Hause.
Amira ging in das Schlafzimmer und öffnete den Koffer. Obenauf lagen zwei Briefe, die sie beantworten wollte, sobald sie Zeit und Ruhe dazu fand. Der erste kam von Greg, der nach dem Tod seines Vaters bei seiner Mutter im Westen von Australien lebte. Er hatte ihr geschrieben, er denke immer noch an sie. Der zweite Brief stammte von Rachel Misrachi. In dem Couvert lag ein Photo von Rachels beiden kleinen Töchtern.
Durch das offene Fenster hörte Amira eine tiefe, laute Stimme. »Wir respektieren die neue Doktorin, Sajjid. Aber eine Frau über vierzig, ohne Ehemann, ohne Kinder, was kann die schon taugen?«
Das war Khalid, der Dolmetscher. Amira hörte aufmerksam zu, als er sagte: »Diese Frau trägt Jeans, bei den drei Göttern, Sajjid. Unsere jungen Männer werden ihretwegen nicht mehr auf den Feldern arbeiten wollen. Sie wird jede Ehefrau eifersüchtig machen. Das ist sehr schlimm, Sajjid.«
Amira lachte leise und schloß das Fenster.
Declan versuchte, die Dorfbewohner zu beruhigen, und versicherte ihnen, daß Dr. van Kerk eine qualifizierte Ärztin war und sie gut versorgen werde. Aber die Leute waren enttäuscht. Als Amira kurz darauf aus dem Haus trat, verstummten alle und starrten sie an.
Sie hatte die Jeans mit einem Kaftan
Weitere Kostenlose Bücher