Das Paradies
Eselskarren und gefährlich schaukelnden Bussen. Auf den Gehwegen herrschte ein buntes Gewimmel von Männern in Anzügen oder Galabijas und Frauen in Kleidern nach der neuesten Pariser Mode oder in schwarzen Melajas.
Ibrahim hatte gehört, daß in Kairo inzwischen fünfzehn Millionen Menschen lebten. Man rechnete damit, daß sich ihre Zahl innerhalb von zehn Jahren verdoppeln werde – dreißig Millionen in einer Stadt, die für ein Zehntel dieser Zahl ausgelegt war.
Wehmütig erinnerte er sich an die schönen Tage unter Farouk, als der Verkehr nicht so dicht, als auf den Gehwegen mehr Platz gewesen war und Eleganz und Lässigkeit die Atmosphäre der Stadt bestimmten. Woher waren all diese Menschen gekommen? Er wandte sich kopfschüttelnd von diesem deprimierenden Bild ab.
Ibrahim seufzte. Er wußte, nicht die Stadt, die er immer noch liebte, war der Grund für seine düstere Stimmung. Er hatte gerade die Laborergebnisse bekommen.
Die Tests waren positiv.
Nun stand er vor der schweren Aufgabe, seine Schwester zu informieren.
Er betrachtete die beiden Photographien auf seinem Schreibtisch: die junge, strahlende und verliebte Alice und Amira, die erst gestern auf die Welt gekommen zu sein schien. Ibrahim spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Von all seinen Kindern, einschließlich Jasmina und der fünf Mädchen, die er von Huda hatte, liebte er Amira immer noch am meisten. Die Verbannung aus der Familie war tatsächlich so etwas wie ihr Tod gewesen. Ibrahim hatte um sie nicht weniger getrauert, als wenn er sie begraben hätte. Einige Zeit war es ihm noch ein Trost gewesen, daß Alice die Verbindung mit ihrer Tochter hielt. Aber durch den Selbstmord von Alice war das letzte dünne Band gerissen. Seit dieser Zeit blickte Ibrahim gelegentlich zum Himmel auf und fragte sich, an welchem Ort auf der Welt sie sich in diesem Augenblick wohl befand …
Trotz allem, Ibrahim hatte ein gutes Leben. Er rief sich energisch zur Ordnung und sagte sich, es nütze einem Mann nichts, über vergangenes Unglück nachzugrübeln. »Man muß die Lasten der Vergangenheit hinter sich lassen und an die guten Seiten des Lebens denken«, ermahnte er sich selbst.
Und so kam Ibrahim Raschid mit einigen Einschränkungen zu dem Schluß, daß sein Leben mehr gute Seiten hatte als das Leben der meisten Menschen. Er war ein angesehener, vermögender Mann und ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft. In einem Land, dessen Gesundheitssystem durch Armut und eine erschreckende Bevölkerungsexplosion aus allen Nähten platzte, war es schwierig, qualifizierte Ärzte zu finden, denen das Wohl ihrer Patienten am Herzen lag. Deshalb war Ibrahim sehr gefragt. Er dankte Gott jeden Tag für seine Gesundheit und seine Energie, denn obwohl er bereits über siebzig war, leistete er noch immer soviel wie ein sehr viel jüngerer Mann. Außerdem hatte er einen guten Beweis für seine Männlichkeit – seine neue Frau war schwanger.
Der kurze Augenblick des Trostes verflog schnell. Ibrahim dachte an die Laborergebnisse und wählte noch einmal Dahibas Nummer. Aber auch diesmal blieb am anderen Ende der Leitung alles still.
»Die Hüften schwingen, dabei bis acht zählen und dann abrupt anhalten«, erklärte Dahiba. Sie trug einen Rock über dem Trikot und demonstrierte ihrer Schülerin, was sie von ihr erwartete. Sie hob die Arme und ließ die Hüften kreisen, während Schultern und Brustkorb unbeweglich blieben. »Jetzt wartest du auf das
Taqsim
. Laß die Musik in dich einströmen wie Sonnenlicht. Du mußt spüren, wie das Strahlen in dein Blut, in dein ganzes Wesen dringt, bis du zum Sonnenlicht wirst. Das ist ein sehr schwieriger Teil der Musik, denn du mußt sie fühlen, um danach tanzen zu können.«
Dahiba und ihre Schülerin blickten auf das Tonbandgerät, während sie der Musik lauschten und sich dem Zauber der Flöte überließen.
Sie waren allein im Studio. Dahiba unterrichtete keine Klassen mehr, sondern nahm nur noch einzelne Schülerinnen an, die sie selbst auswählte. Natürlich wollten alle bei Dahiba tanzen lernen, aber nicht jede erhielt diese Möglichkeit. Mimi fand, sie hatte besonders großes Glück.
»So«, sagte Dahiba, hielt das Band an und spulte es zurück. »Hast du es gespürt? Kannst du dazu tanzen?«
»Ja!«
Mimi war achtundzwanzig Jahre alt und hatte acht Jahre Bauchtanz und davor zehn Jahre Ballett studiert. Sie war gut und sie war ehrgeizig. Zwar trat sie immer noch in Clubs und nicht in den Fünf-Sterne-Hotels auf,
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