Das Paradies
Geburtstagskarte eintraf. Er hatte die Karten alle aufgehoben und besaß inzwischen zwanzig. Mohammed verbot sich, über Fragen nachzudenken, die ihn beunruhigten: Weshalb war sie weggegangen? Weshalb kam sie nicht zurück? Und weshalb sprach niemand in der Familie von ihr?
»Mein Gott!« rief Salah. »Gehen wir doch ins Kino und sehen uns den neuen Film mit Mimi an!«
»Er läuft im Roxy«, sagte Habib. Er trank seinen Tee aus und warf fünf Piaster auf den Tisch.
Die jungen Männer erhoben sich eilig von ihren Plätzen und stürmten hinaus. Die älteren Gäste sahen ihnen kopfschüttelnd nach und machten mit gerunzelter Stirn Bemerkungen über die Ungeduld der Jugend und die Sinnlosigkeit der Eile, wo das Leben doch so kurz war …
Mohammed fiel auf, daß vor dem Kaffeehaus ein Mann stand und ihn beobachtete. Der Mann kam ihm bekannt vor. Wo hatte er ihn schon einmal gesehen? Dann fiel es ihm ein. Er kannte ihn aus der Zeit seiner kurzen Zugehörigkeit zu den Muslimbrüdern. Ibrahim hatte von ihm verlangt, sich von den Muslimbrüdern loszusagen. Wie hieß dieser Mann noch?
»
Ja Allah!
Du träumst schon wieder«, sagte Salah und zog ihn am Ärmel. »Gehen wir, sonst verpassen wir den Anfang.«
Die übermütigen jungen Männer gingen über den Platz, und Mohammed spürte, wie der Mann ihn mit seinen Blicken verfolgte. Als sie sich unter die Menge auf dem Boulevard mischten, fiel ihm plötzlich der Name ein. Der Mann hieß Hussein, und Mohammed erinnerte sich, daß er sich vor ihm gefürchtet hatte.
Dahiba gab dem kleinen Jungen, der auf ihren Wagen aufgepaßt hatte, während sie in Ibrahims Praxis gewesen war, einen Bakschisch. Dabei sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gruppe junger Männer, die gerade in das Roxy gingen. Als sie ihren Neffen Mohammed unter ihnen entdeckte, wollte sie ihn rufen. Aber sie überlegte es sich anders, setzte sich ans Steuer ihres Mercedes, drückte auf die Hupe und reihte sich in den dichten Verkehr auf der einspurigen Fahrbahn ein. Nach wenigen Minuten steckte sie im Stau und mußte neben einer großen Rolex-Reklametafel anhalten. Dahiba legte den Kopf auf das Steuer und begann zu weinen.
Die Frauen hatten sich im Pavillon versammelt. Die Tanten, Cousinen und Nichten der Raschids saßen im Schatten und aßen Köstlichkeiten aus Ummas Küche, während Khadija das Schneiden des gerade aufgeblühten Rosmarins beaufsichtigte. Die zartblauen Blüten und die graugrünen Blätter kamen in verschiedene Körbchen, die zwei ihrer Urenkelinnen trugen – Nalas dreizehnjährige Tochter, die keine Begabung zur Heilerin oder zum Umgang mit Kräutern besaß, und Basimas zehnjährige Tochter, die sich besonders gut dazu eignete.
So wie Ali Raschids Mutter Khadija das uralte Wissen weitergegeben hatte, das sie von ihrer Mutter besaß, so hatte Khadija darauf geachtet, die Frauen der Familie im Laufe der Jahre in die Geheimnisse der Kräuter einzuweihen. Einige ihrer Rezepturen waren so alt, daß man sagte, sie stammten von Eva, der Mutter der Menschheit.
»Wofür verwenden wir Rosmarin, Umma?« fragte die Zehnjährige.
Khadija sah die Kleine mit einem freundlichen Lächeln an und mußte plötzlich an Amira denken. Traurig dachte sie: Auch Amira hatte einen solchen Wissensdurst. Sie hat immer gefragt, welche Kräuter gegen welches Leiden gut sind.
Amira, ich weine jedesmal wieder um dich, wenn ich an unsere Toten denke …
»Die Blüten verwenden wir für ein Einreibemittel, und aus den Blättern machen wir Tee gegen Verdauungsbeschwerden.«
Sie blickte zum grauen Februarhimmel auf und sah Wolken. Vielleicht würde es regnen. Früher hatte es doch nie so viel Regen gegeben. Im Fernsehen hatte jemand gesagt, die Auswirkungen des 1971 fertiggestellten Assuanstaudamms würden erst jetzt in vollem Umfang erkennbar. Dazu gehörten auch die vermehrten Niederschläge im Niltal als Folge der Verdunstung des riesigen Nasser-Stausees. Inzwischen fiel Regen, wo niemals Regen gefallen war, Feuchtigkeit und Pilze zerfraßen alte Grabmalereien, und in den Tümpeln entlang des Nils, die in der Vergangenheit jedes Jahr durch die Überflutungen gesäubert worden waren, bildeten sich Krankheitserreger.
Nicht nur die Zeiten ändern sich, dachte Khadija, sondern auch die Welt, die uns umgibt.
Die Tage schienen wie im Flug zu vergehen. War Zeinab nicht erst gestern geboren worden und Tahia und Omar vor einer Woche?
Khadijas Hände waren inzwischen arthritisch, und hin und
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