Das Paradies
überall auf der Welt leben. Aber Sie und ich, wir werden nichts daran ändern, überhaupt nichts. Sehen Sie …« Er drehte sich um. Auf der Säule waren verwitterte, eingehauene Schriftzeichen und Figuren, die man kaum noch erkennen konnte. Doch die untergehende Sonne ließ die Konturen des Säulenschmucks besonders plastisch hervortreten. In wenigen Minuten würde es dunkel sein. Sie blickten beide wie gebannt auf die geheimnisvollen Zeichen aus einer anderen Zeit.
»Sehen Sie das?« fragte er und wies auf Szenen mit Männern bei der Feldarbeit, Büffeln am Wasserrad und Frauen beim Mahlen von Korn. »Diese Bilder sind wahrscheinlich vor dreitausend Jahren in den Stein gemeißelt worden, aber es hätte auch erst gestern sein können, denn die Fellachen leben heute noch genau wie ihre Vorfahren. Es hat sich nichts verändert. Das ist die Lektion, die ich nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit in der Dritten Welt gelernt habe. Glauben Sie mir, ganz gleich, was wir tun, die Menschen bleiben, wie sie sind. Nichts ändert sich.«
»Nichts außer Ihnen«, sagte Amira. »Sie haben sich verändert.«
»Sagen wir einfach, ich bin aufgewacht.«
»Und was sehen Sie?«
»Ich sehe, daß unsere Arbeit hier in Ägypten und in den Flüchtlingslagern vergeblich ist.«
»So haben Sie früher nicht gedacht. Sie dachten einmal, Sie könnten die Kinder der Welt retten.«
»Das war in der Zeit meiner grenzenlosen Selbstüberschätzung. Ja, Sie haben recht. Damals glaubte ich wirklich, etwas verändern zu können.«
»Sie können immer noch etwas verändern«, erwiderte sie, und in ihrem Blick lag eine Herausforderung.
Sie hörten Schritte, die in der Stille der Wüste ungewöhnlich laut klangen. Hadji Tajeb kam schnaufend auf sie zu. »Bei den drei Göttern«, stöhnte er, »Gott sollte mich besser bald zu sich rufen, sonst nützt mir das Paradies nichts mehr! Ach, der Tempel und die Höhlen. Mein Dorf könnte viel Geld damit machen, wenn wir die Touristen herlocken würden. Aber nachdem sie Karnak und Kom Ombo gesehen haben, sagen sie hier: ›Ach, nur zwei Säulen?‹ Abu Hosni und ich hatten den Plan, neue Säulen aufzustellen, die alt aussehen sollten. Aber mein Gott, ich bin müde.« Er setzte den Korb mit dem Essen ab.
Connor sagte: »Ich bringe den Wagen hierher. Wir können zu dem frommen Mann fahren.«
Während sie warteten, bot Amira dem alten Mekkapilger ihren Platz auf der Widderstatue an. Er setzte sich dankbar und hüllte sich in seine weiße Galabija. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in den Himmel. Die ersten Sterne waren zu sehen.
»Ich bin nachts nicht so gern hier«, sagte er und legte die Hand auf die Brust.
»Fehlt Ihnen etwas?« fragte Amira.
»Ich bin ein alter Mann. Gott beschütze mich.«
Als Declan zurückkam, und Tajeb über Mattigkeit klagte, holte er die Arzttasche aus dem Wagen und wollte sie gerade öffnen, als Tajeb den Kopf hob und sagte: »Nein, zuerst muß ich den frommen Mann aufsuchen und ihm etwas zu essen bringen. Es ist nicht weit. Wir können die paar Schritte gehen.« Er stand auf und ging zu den Höhlen. Amira und Connor folgten ihm mit dem Korb.
Das Sanktuarium der Göttin war in den Fels gehauen. Es war ein quadratischer Raum von ungefähr drei Metern Seitenlänge und etwa mannshoch. Sie mußten über Fels und Schutt klettern, um ihn zu erreichen. Amira rutschte auf dem losen Geröll, und Declan nahm sie bei der Hand. Die Öffnung befand sich in der Ostwand, und man konnte im dunklen Innern nichts erkennen.
»Al hamdu lillah«,
sagte Hadji Tajeb. Er zündete eine kleine Öllampe an, die er mitgebracht hatte, bückte sich und verschwand in der Öffnung. Connor wollte ihm gerade folgen, als Tajeb aufgeregt rief: »Sajjid, Sajjid, kommen Sie schnell!« Declan bückte sich und trat vorsichtig ein. Im trüben Licht sah er auf dem Boden vor einem rechteckigen Steinquader, vermutlich dem Altar, einen Mann im Gewand und dem Turban eines Sufi-Mystikers liegen. Sein Körper wurde von heftigen Zuckungen geschüttelt. Vor seinem Mund stand Schaum, und er verdrehte die Augen. »Er ist ein heiliger Mann«, flüsterte Tajeb.
»Epilepsie«, sagte Connor, aber mehr zu sich, »das Leiden der Auserwählten Gottes. Wir müssen warten, bis der Anfall vorüber ist.«
Es dauerte einige Zeit, bis der Krampf sich löste und die Zuckungen nachließen. Schließlich atmete der Mann ruhiger und öffnete die Augen. Declan sagte respektvoll: »
Abu,
Vater, ich bin Arzt. Ich werde dir
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