Das Paradies
setz dich doch.«
Aber Mohammed wollte stehen bleiben. Die Wohnung erschien ihm zu heiß und zu eng. Er glaubte zu ersticken. Schließlich setzte er sich widerwillig auf den Teppich, den seine Großmutter vor vielen Jahren auf einer Auktion ersteigert hatte, weil er, wie sie behauptete, einmal ihrer Freundin, Prinzessin Faiza, gehört hatte.
»Sag mir alles, Großmutter«, bat er und starrte vor sich hin, »sag mir, was mit meiner Mutter geschehen ist.«
Nefissa richtete sich auf und erwiderte: »Mein armer Junge. Du darfst es dir nicht so zu Herzen nehmen, versprich mir das.« Als Mohammed stumm nickte, sagte sie: »Man hat deine Mutter beim Ehebruch mit dem besten Freund deines Großvaters ertappt.«
»Das … glaube ich nicht«, murmelte Mohammed, und die Tränen traten ihm in die Augen.
»Frag deinen Großvater, wenn er aus Suez zurück ist. Er wird dir die Wahrheit sagen. Obwohl sie seine Tochter war, wird er dir sagen, daß Amira keine Ehre besaß.«
»Nein!« rief er. »So etwas darfst du nicht sagen!«
»Es ist die Wahrheit. Deine Mutter hat Schande über unsere Familie gebracht. Deshalb spricht niemand von ihr. Dein Großvater hat deine Mutter am Vorabend des Sechs-Tage-Kriegs aus der Familie verstoßen und für tot erklärt. Es war ein schwarzer Tag für Ägypten, für uns alle.«
Nefissa preßte die Lippen zusammen. Den Rest würde sie ihm nicht sagen. Sie würde ihm nicht verraten, daß Amira um Gnade gefleht hatte. Er sollte nicht wissen, daß sie ihren Sohn hatte behalten wollen und daß Omar sein Recht geltend gemacht und ihr gesagt hatte, sie dürfe Mohammed niemals wiedersehen.
Mohammed begann plötzlich, am ganzen Körper zu zittern. Er sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Nefissa hörte, wie er sich im Bad übergab.
Als er bleich und verstört wieder im Zimmer erschien, streckte sie die Arme nach ihm aus. »Hör zu, mein Liebling. Ich habe eine Idee …«
Aber Mohammed drehte sich wortlos um und rannte aus der Wohnung. Er lief durch die Straßen und hatte nur ein Ziel – das Kaffeehaus von Feijrouz. Er hoffte, dort seine Freunde Salah und Habib zu treffen, die ihn immer zum Lachen brachten. Aber seine Freunde waren nicht da. Dafür traf er vor dem Kaffeehaus Hussein, der sich unaufgefordert zu ihm an den Tisch setzte. Mohammed stützte den Kopf in die Hände und hörte zu, während Hussein sprach und ihm seinen Plan darlegte.
Mohammed sah eine schwarze Wolke. Die Wolke trieb auf ihn zu wie ein giftiger Nebel, wie der Rachen eines Dschinns, der ihn verschlingen würde. Mohammed sagte »Ja« zu allem, was Hussein vorhatte. Sein Zorn wuchs von Minute zu Minute. Ich werde mich rächen, dachte er. Ich werde nach Al Tafla gehen und sie bestrafen. Sie soll dafür büßen, was sie mir, uns allen, angetan hat.
Amira suchte am nächtlichen Himmel Mirach, den Stern, unter dem sie geboren war. Er stand im Sternbild Andromeda, und sie hoffte, er werde ihr Kraft für das schenken, was sie vorhatte.
Die Sterne funkelten und glitzerten wie ein Feuerwerk, und es war unmöglich, einen unter so vielen zu erkennen. Aber sie sah den Mond über dem Nil. Er war groß, rund und leuchtete wie ein freundliches Licht. Amira hob beschwörend die Arme.
Nach einem stummen Gebet machte sie sich auf den Weg vom Fluß zurück in das schlafende Al Tafla. Sie ging durch die dunklen Gassen und erreichte schließlich das Haus der Scheika, der weisen Frau, die auch eine Wahrsagerin und Hellseherin war. Amira mußte schnell handeln. In drei Tagen würde Declan Connor nicht mehr da sein.
Declan ging auf den knarrenden Brettern seiner Veranda hin und her. Er konnte nicht schlafen. Immer wieder blieb er stehen und suchte den mitternächtlichen Himmel nach Wolken ab. Den ganzen Tag über war fernes Donnergrollen zu hören gewesen. Die Luft schien elektrisch geladen zu sein, und man hatte ungewöhnlich große Scharen von Vögeln gesehen. Kam ein Sturm auf? Aber wie war das ohne Wolken und Wind möglich?
Declan zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und dachte über den Sturm nach, der in seinem Innern tobte.
In drei Tagen würde er Ägypten verlassen, und Amira ging ihm nicht aus dem Kopf. Er mußte immer daran denken, wie er sie vor vier Wochen, nach dem Tod ihres Bruders, in den Armen gehalten und getröstet hatte. Die Erinnerung an ihren Körper, der sich an seinen Körper lehnte, an ihre Wärme, an ihre Brüste, die sich gegen seine Brust drückten, an die Tränen auf seinem
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