Das Paradies
abgelehnt, sich zu verschleiern, und erstaunlicherweise hatte Khadija keinen Einspruch erhoben.
Und so spielten die Mädchen jetzt mit den Melajas wie Alice einst mit den abgelegten Kleidern ihrer Mutter. Aber da war doch ein Unterschied gewesen. Die veralteten Abendkleider von Lady Frances waren schlicht Kleider und nicht das Symbol der Unterdrückung und Sklaverei.
Beklommen dachte Alice daran, daß seit Farouks Abdankung und der Übernahme der Macht durch die neue revolutionäre Regierung die Forderung immer nachdrücklicher wurde, die Briten aus Ägypten zu vertreiben; und danach sollte das Land zu den alten Lebensweisen zurückkehren. Alice hatte sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, aber jetzt wurde ihr plötzlich bewußt, was eine Rückkehr zu den alten Sitten hieß. Sie kannte die Bilder der Vorfahren der Raschids: Männer im Turban und Fez umgeben von vielen verschleierten Frauen. Diese Frauen besaßen keine Identität, waren ohne Gesicht und lebten nur im Schutz des Mannes, der sie in seinem Harem hielt.
Diese Frauen müssen schweigend mit ansehen, wie ihre Männer sich eine andere nehmen, wenn sie das wollen.
Immer, wenn Alice den kleinen Zacharias sah oder ihn lachen hörte, spürte sie den alten Schmerz wie von einer Wunde, die nicht verheilt, und dachte: Ibrahim hatte bereits eine Frau, als er mich geheiratet hat …
Alice träumte von einem richtigen englischen Tee in Gesellschaft von anderen Engländerinnen, von Bällen und Theateraufführungen an der Seite von Ibrahim. In der englischen Gesellschaft trafen Männer und Frauen ungezwungen zusammen. In England könnte sie mit Amira andere Mütter mit ihren Kindern treffen. Was soll nur geschehen, wenn die Briten Ägypten verlassen? Wird dann alles Europäische endgültig aus meinem Leben verschwinden? Eine erschreckende Zukunft schien sich vor ihr aufzutun – eine Zukunft, in der sich Frauen wieder verschleiern mußten, das Haus nicht verlassen durften und der Willkür ihrer Männer ausgeliefert waren, die über einen Harem herrschten.
Ihre Tochter spielte in aller Unschuld mit dem archaischen schwarzen Tuch, verhüllte ihren Körper und ihr Wesen. Aber wie sollte das Leben dieser Mädchen in einem Land sein, in dessen Sprache das Wort für »Chaos«, Fitna, auch »schöne Frau« bedeutete?
Die Mädchen sprachen arabisch, und Alice hatte ihnen auf arabisch geantwortet, aber als sie sich jetzt auf eine der Steinbänke setzte und Amira auf ihren Schoß nahm, sagte sie auf englisch: »Als ich gerade im Garten gearbeitet habe, ist mir eine lustige Geschichte eingefallen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Wollt ihr sie hören?« Die beiden jubelten begeistert und hörten aufmerksam zu.
Ich werde Amira von England erzählen, dachte Alice. Ich werde in meiner Sprache zu ihr sprechen. Ich werde ihr meine Erinnerungen schenken, damit meine Tochter gewappnet ist für die Zukunft und ihre Herkunft nie vergißt …
Alice erzählte die Geschichte von der Maus, die zufrieden bei der kurzsichtigen Großmutter Westfall in der Küche lebte, die große Angst vor Mäusen hatte. Die Mädchen kugelten sich vor Lachen, als Alice ihnen vormachte, wie die alte Großmutter jeden Morgen den Teewärmer hochnahm, in dem die Maus schlief, die Maus dann auf das Sofa sprang und die beiden nebeneinander saßen und Tee tranken.
»Hallo! Guten Morgen!« hörten sie plötzlich eine Stimme, und Alice sah hinter den Büschen die roten Haare von Marijam Misrachi.
»Tante Marijam!« riefen die beiden Mädchen, sprangen auf und führten stolz ihre Melajas vor.
Marijam bewunderte die weiblichen Künste der beiden und sagte dann zu Alice: »Wie geht es dir? Du siehst gut aus.«
Während Alice sich mit Marijam unterhielt, wurde ihr zum ersten Mal bewußt, wie sehr sich Khadija von ihrer besten Freundin unterschied. Die beiden Frauen, das wußte sie, sahen sich seit vielen Jahren beinahe täglich, aber Marijam war immer fröhlich und sehr temperamentvoll. Sie bevorzugte bunte Farben, während Ibrahims Mutter zurückhaltend und eher konservativ war. Alice verstand nicht, weshalb Khadija mit ihrem von der Außenwelt abgeschnittenen Leben zufrieden war, denn sie war eine attraktive Frau im besten Alter, die immer wieder Heiratsanträge bekam.
Marijam sagte: »Mein Sohn Itzak hat mir heute geschrieben.«
»Er lebt in Kalifornien, nicht wahr?«
»Ja, er hat mir Photos geschickt. Das ist seine Tochter Rachel. Ist sie nicht hübsch?« Alice betrachtete die Photos, auf
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