Das Paradies
denen die Familie an einem Strand mit Palmen stand.
»Rachel ist nur wenige Jahre älter als deine Amira«, Marijam seufzte, »mein Gott, wie die Zeit vergeht. Ich habe sie nie gesehen. Aber eines Tages werden Suleiman und ich unsere Kinder besuchen. Ach, das Bild hier wird dich bestimmt interessieren. Ich hatte Itzak gebeten, es mir zu schicken, denn es gibt nur noch dieses eine Photo. Es ist schon sehr alt und wurde an Itzaks Bar-Mizwah aufgenommen. Erkennst du jemanden wieder?«
Es war ein Gruppenbild unter einem alten Olivenbaum. Alice erkannte Marijam und Suleiman Misrachi mit ihrem Sohn Itzak. Sie sahen sehr viel jünger aus, und auch Ali Raschid, Khadijas breitschultriger Mann, dessen Bild fast in jedem Zimmer des Hauses hing, war abgebildet. In dieser Gruppe schien er wie immer die beherrschende Persönlichkeit zu sein. Schließlich entdeckte sie auch Ibrahim, damals noch ein junger Mann. Alice staunte über die Ähnlichkeit mit seiner Tochter Amira. Ibrahim blickte nicht in die Kamera, sondern auf seinen Vater.
»Wer ist das junge Mädchen?« fragte Alice.
»Das ist Fatima, Ibrahims Schwester.«
»Ich habe noch nie ein Bild von ihr gesehen. Weißt du, was aus ihr geworden ist? Ibrahim spricht nie von ihr.«
»Vielleicht wird er dir eines Tages die Geschichte erzählen«, erwiderte Marijam ausweichend, »ich werde versuchen, dir einen Abzug von dem Bild machen zu lassen. Itzak möchte es zurück haben. Khadija möchte es bestimmt auch für ihr Photoalbum.« Marijam lachte. »Ihre Besessenheit mit Photoalben! Also, ich hätte nicht die Geduld dazu. Bei mir liegen die Photos in Schachteln.«
»Marijam«, fragte Alice, als sie mit ihr zu den Alpenveilchen ging, »es gibt keine Photos von Khadijas Familie, von ihren Eltern, Brüdern und Schwestern. Wie kommt das?«
»Hast du sie danach gefragt?«
»Ja, aber sie sagt jedesmal, als Ali sie geheiratet hat, wurde seine Familie zu ihrer Familie. Aber sie müßte doch Bilder von ihrer Familie haben. Sie spricht nie von ihren Eltern.«
»Nun ja, du weißt, manchmal gibt es zwischen Eltern und Kindern Probleme, und die Dinge verlaufen nicht so reibungslos.«
Alice dachte an ihren Vater, der es nach wie vor ablehnte, mit seiner Tochter zu sprechen. Sie nickte und sagte: »Ja, das stimmt.« Alice hatte gehofft, der alte Earl werde sich nach der Geburt von Amira mit ihr aussöhnen. Aber er schickte an Weihnachten nur ihrer Tochter ein Geschenk – einen Scheck für das Sparkonto seines Enkelkinds. Ansonsten ließ der Earl von Pemberton nicht erkennen, daß er außer Edward noch eine Tochter hatte.
Alice nutzte die Möglichkeit, einmal mit Marijam allein zu sein, und fragte: »In den Alben gibt es auch kein Bild von Zacharias’ Mutter. Hast du sie gekannt?«
»Nein, keiner von uns kennt sie. Aber das ist bei Muslims nicht ungewöhnlich.«
»Weißt du, wie sie heißt oder wo sie jetzt lebt?«
Marijam schüttelte den Kopf.
»Marijam«, fragte Alice in dem Bewußtsein, dieser Frau, die Raschids so gut kannte, vertrauen zu können, »glaubst du, ich werde hier akzeptiert?«
»Was willst du damit sagen? Bist du nicht glücklich?«
»Ich bin glücklich. Darum geht es nicht, ich meine … es ist schwer zu erklären. Manchmal habe ich das Gefühl, meine innere Uhr schlägt in einem anderen Rhythmus … oder ich finde nicht den richtigen Ton wie bei einem etwas verstimmten Klavier. Kannst du das verstehen? Wenn wir manchmal abends nach dem Essen im Salon sitzen, sehe ich die Familie meines Mannes, und sie scheinen mir alle etwas verzerrt zu sein. Das ist natürlich nur mein Eindruck. Ich weiß, im Grunde liegt es an mir. Ich habe die Vorstellung, ein quadratisches Holz zu sein, das in ein rundes Loch gepreßt werden soll. Ich bin hier glücklich, Marijam, und ich möchte wirklich hierher gehören. Aber manchmal …«
Marijam lächelte mitfühlend und sagte: »Was möchtest du eigentlich, Alice? Du sagst, du bist glücklich, aber vielleicht möchtest du im Grunde noch etwas? Vergiß nie, das hier ist nicht England. Etwas muß dir auf der Seele liegen, auch wenn du es nicht aussprechen kannst.«
Alice blickte zu dem Haus, das in der Sonne rosa leuchtete, und stellte sich vor, durch die dicken Mauern in die vielen Zimmer sehen zu können. »Im Augenblick«, sagte sie so leise, als würde sie mit sich selbst sprechen, »geht Khadija durch das Haus und macht eine Bestandsaufnahme aller Gegenstände – der Wäsche, des Porzellans …«
Marijam lachte. »Khadija
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