Das Paradies
Mittlerweile waren so viele Blüten aufgegangen, daß sie in dem Beet schon von weitem leuchteten. Für Alice waren sie wie ein Gruß aus der Heimat. Ich muß sie Edward zeigen, dachte Alice, genauso haben sie in unserem Garten geblüht, als wir noch Kinder waren.
Aber als sie im Überschwang der Gefühle ins Haus laufen wollte, um ihren Bruder zu holen, fiel Alice ein, daß Ibrahim und Hassan mit Edward zu einem Tennisturnier gefahren waren. Sie würden erst spät am Nachmittag wiederkommen. Sie hatten Alice natürlich nicht aufgefordert mitzukommen, denn Frauen waren bei solchen Anlässen nicht erwünscht. Sie sagte sich, es mache ihr nichts aus. Es war eine der vielen Sitten, an die sie sich hatte gewöhnen müssen, seitdem sie in der Paradies-Straße lebte. Manchmal stand sie im Garten, betrachtete die hohe Mauer um das Anwesen und fragte sich, ob sie weniger dazu da sei, die Bewohner vor Eindringlingen zu schützen, als sie daran zu hindern, dieses hochherrschaftliche Gefängnis zu verlassen. Es gab auch Zeiten, in denen sie sich innerlich dagegen auflehnte, bei den Frauen zu sein, während Ibrahim und Eddie mit Freunden im anderen Teil des Hauses saßen. Aber Alice fand, alles in allem war die ägyptische Gesellschaft nicht so schwierig, wie sie das anfangs befürchtet hatte. Sie hatte ihren Freunden erst kürzlich nach England geschrieben: »Mir geht es wirklich gut. Ich habe einen sehr fürsorglichen Mann geheiratet und lebe in einem großen Haus mit mehr Dienstboten, als ich mir hätte träumen lassen.«
Als sie das Unkraut um die Alpenveilchen jätete, hörte Alice den Gesang eines Mädchens in der Nähe. Sie richtete sich auf, lauschte, und als sie Jasminas Stimme hörte, mußte sie lächeln. Das Kind ist mit Musik im Blut geboren worden, dachte sie und versuchte, die arabischen Worte zu verstehen. Nach sieben Jahren war Alice stolz auf den Fortschritt ihrer Arabischkenntnisse. Sie verstand nicht alles, was Jasmina sang, aber dem Sinn konnte sie folgen. Wie immer bei ägyptischen Liedern ging es um die Liebe:
»Mein Herz steht in Flammen. Warum bleibst du so kalt? Ich werde dir die Rose bringen, wenn du mein Flehen erhörst.«
Als Amira einstimmte, wunderte sich Alice nicht. Die beiden waren zwar ein Jahr auseinander, standen sich aber so nahe, als seien es Zwillinge. Sie waren unzertrennlich, und wenn Alice abends noch einmal zu den Mädchen ging, hatte sie beobachtet, daß sie manchmal sogar zusammen in einem Bett schliefen.
Zu ihrer Überraschung löste die Stimme ihrer Tochter bei Alice Heimweh nach England aus. Alice sehnte sich plötzlich danach, das alte Tudorschloß der Westfalls und das vom Regen grüne Land wiederzusehen. Aber ich bin hier glücklich, rief sie sich in Erinnerung. Ich habe bei Ibrahim ein gutes Leben und ich habe eine bezaubernde kleine Tochter.
Doch etwas quälte sie. Jasminas Stimme schien ihre Sicherheit zu untergraben. Alice blickte sich im Garten um, als würden die neuen Zweifel in den Blumen und Büschen sichtbar. Sie dachte über ihr Leben nach und fand, es sei aus ihrer Sicht nichts dagegen einzuwenden, daß sie und Ibrahim in den entgegengesetzten Teilen des Hauses schliefen. Auch ihre Eltern hatten immer getrennte Schlafzimmer gehabt. Alice beschwerte sich auch nicht darüber, daß Ibrahim an vielen gesellschaftlichen Ereignissen ohne sie teilnahm. Aber an diesem warmen Augustmorgen wurde ihr zum ersten Mal bewußt, daß etwas fehlte, etwas nicht richtig war. Doch sie wußte nicht, was.
Alice ging langsam zu einem Jasminstrauch, teilte die Zweige und sah Amira und Jasmina in der Sonne spielen. Ihr Lächeln erstarrte, als sie sah, was die Mädchen taten.
Sie hatten beide eine Melaja, die sie sich lachend um Kopf und Körper legten. Geschickt ließen sie die obere Gesichtshälfte unbedeckt, wie sie es bei den Frauen gesehen hatten, und Alice sah erstaunt, daß die beiden Mädchen sehr gekonnt die glatte Seide drapierten und beim Gehen über die Hüften schlangen.
»Na, Kinder«, sagte sie und ging zu ihnen.
»Tante Alice!« rief Jasmina und stolzierte mit ihrer Melaja kokett auf und ab. »Sind wir nicht hübsch? Tante Nefissa hat sie uns gegeben!«
Das sind Nefissas abgelegte Schleier, dachte Alice und erinnerte sich an die Veränderung ihrer Schwägerin nach der geheimen Liebesnacht mit dem britischen Offizier. Nefissa hatte damals erklärt: »Ich möchte nicht mehr so leben wie meine Mutter. Ich möchte eine emanzipierte Frau sein.« Nefissa hatte es von da an
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