Das Parsifal-Mosaik
Freund, Mentor, Vaterersatz. Was die Aktion an der Costa Brava betraf, war auch er eine Marionette gewesen. Wer konnte es wagen, ihn zu hintergehen?
Während Havelock ein paar Lirascheine auf den Tresen des Kiosks legte und das Magazin nahm, erinnerte er sich ganz deutlich an Antons handschriftlichen Brief, der auf dessen Drängen von den Strategen in Washington der Vier-Null-Akte beigelegt worden war, die man nach Madrid geflogen hatte. In ihren wenigen kurzen Gesprächen in Georgetown hatte Matthias erkannt, wie tief Michaels Gefühle für die Frau waren, die man ihm die letzten acht Monate zugeteilt hatte. Seine persönlichen Zeilen waren denn auch voller Trost und Verständnis für den tschechischen Freund gewesen.
Mui mily synu
Das Beiliegende schmerzt mein Herz so, wie es dem Deinen Schmerzen bereiten wird. Du, der Du früh so viel gelitten hast und später unserem Land selbstlos so viel gegeben hast, mußt erneut leiden. Ich habe eine vollständige Bestätigung dieser Indizien verlangt und erhalten. Wenn Du nun aus der Szene aussteigen willst, hast Du natürlich die Möglichkeit dazu. Du solltest Dich durch die beigefügten Empfehlungen nicht gebunden fühlen. Eine Nation kann nicht Grenzenloses verlangen, und Du hast ihr alles gegeben, ja, noch mehr als das. Vielleicht hat der Zorn, von dem wir vor Jahren sprachen, die Wut, die Dich in dieses schreckliche Leben geschleudert hat, jetzt nachgelassen und es Dir erlaubt, in eine andere Welt zurückzukehren, die Deine intellektuelle Kraft braucht. Ich bete darum.
Truj Anton M.
Havelock verdrängte den Brief aus seinem Bewußtsein; er machte das Unbegreifliche nur noch schwerer. Bestätigung: positiv. Er schlug das Magazin auf und suchte die Seite mit dem Artikel über Matthias. Dort stand nichts Neues, nur eine Zusammenfassung seiner letzten diplomatischen Aktivitäten im Bereich der Abrüstungsverhandlungen. Der Artikel schloß mit der Feststellung, der Außenminister verbringe momentan an einem nicht näher bezeichneten Ort einen wohlverdienten Urlaub. Michael lächelte; er kannte diesen Ort: eine Blockhütte im Shenandoah-Tal. Es war durchaus möglich, daß er, noch ehe die Nacht zu Ende war, ein Dutzend Codes benutzen würde, um jene Berghütte zu erreichen. Aber erst, wenn er herausbekommen hatte, was geschehen war. Er würde erst dann an Matthias herantreten, wenn er den schrecklichen danse macabre begriff. Denn auch Anton Matthias war von ihm erfaßt worden.
Die Menschengruppe unter der riesigen Kuppel des OstiaBahnhofs hatte sich aufgelöst, der letzte Zug, der Rom in dieser Nacht verließ, war gerade abgefahren. Havelock holte seinen Koffer aus dem Schließfach und sah sich nach einem Zeichen um; es mußte irgendwo sein. Vielleicht war das Ganze Zeitvergeudung, aber das glaubte er nicht; zumindest war dieser Bahnhof ein Ort, an dem er anfangen konnte. In dem Cafe in der Via Pancrazio hatte er zu Baylor gesagt: »Kurz nachdem sie aus dem Zug stieg, hatte sie mit dem Schaffner gesprochen. Ich bin sicher, daß ich ihn finden kann.«
Michael überlegte, daß jemand auf der Flucht nicht einfach beiläufig ein Gespräch mit einem Schaffner begann; dieser Jemand hatte dafür viel zuviel zu bedenken. Und es gab in jeder Stadt Viertel, wo Männer und Frauen untertauchen konnten. Viertel, wo die einzige Währung Bargeld war, wo man den Mund hielt und in den Hotels die Gäste nur selten unter ihrem richtigen Namen registriert waren. Jenna Karras kannte Rom nicht. Deshalb hat sie sich von dem Schaffner am Zug wahrscheinlich einen Tip geben lassen. Um Jennas Spur aufzunehmen, mußte er diesen Mann unbedingt finden. An der Wand hing eine Tafel mit einem Pfeil, der auf einen Bürokomplex wies. Amministratore della stazione.
Fünfunddreißig Minuten später, nachdem ein Bahnbeamter ihm gegen das nötige Kleingeld die gewünschte Auskunft gegeben hatte, besaß er die Adresse des Zugführers, der, wie er erfahren hatte, ein wenig Englisch sprach.
Er stieg die ausgetretenen Steinstufen des Apartmentgebäudes bis zum fünften Stock hinauf, fand den Namen Mascolo an einer Wohnungstür und klopfte. In dem rotgesichtigen Mann, der ihm öffnete, erkannte er sofort den Schaffner, den er mit Jenna Karras hatte sprechen sehen. Er trug eine weite Hose, die ein Hosenträger über dem Unterhemd festhielt. Sein Atem stank nach billigem Fusel, seine Augen blickten nicht mehr völlig klar. Havelock zog einen Fünftausend-Lire-Schein aus der Tasche.
»Wer erinnert sich schon an
Weitere Kostenlose Bücher