Das Patent
vergessen. Er griff in die Tasche und zog die Plastiktüte hervor, die Sarah im medizinischen Zentrum hatte liegen lassen.
»Was ist das?«, fragte Poole.
»Bruchstücke der >Patent<-Scheibe«, erwiderte Warne. »Sie ist bei der Rauferei zerbrochen.« Er legte sie auf den Tisch.
»Was genau vermuten Sie?«
»Meiner Meinung nach klingt die ganze Geschichte nach einem Hinhaltemanöver. Nach einem sorgfältig geplanten, sorgfältig getarnten Hinhaltemanöver.«
»Aber warum?«, fragte Terri. Sie ergriff den Beutel und drehte ihn neugierig in den Händen. »Auf was warten die?«
»Tja. Das ist die Millionendollarfrage, nicht wahr?«
In der nun folgenden Stille leerte Poole sein Glas und stellte es mit einem zufriedenen Seufzen auf die Tischplatte.
15:50 Uhr
Obwohl in den öffentlichen Bereichen Utopias keine Uhr en hingen, betrug die Zeit genau 15.50 Uhr.
In Gaslight hatte sich vor dem Eingang des »Holokabinetts« eine große Menschenmenge versammelt. Der wirkliche Name der Attraktion lautete freilich anders: Auf den Lageplänen und dem verzierten Schild über dem Vorshowbereich stand deutlich hervorgehoben »Professor Cripplewoods Kammer der fantastischen Illusionen«. Das »Holokabinett« war eine großväterliche Spiegelhalle, in der die Technologie des »Patents« eingesetzt wurde, um aus heimlich aufgenommenen Fotos der Kabinettbesucher lebensgroße Hologramme anzufertigen. Die Hologramme wurden so verarbeitet, dass sie Spiegelbildern ähnelten und in Echtzeit im gesamten matt beleuchteten Irrgarten der Kammer herumschwebten. Dazu kamen noch normale Spiegel, sodass sich eine teuflisch verwirrende Atmosphäre ergab. Besucher, die durch die gewundenen Gänge des Labyrinths stolperten, begegneten fortwährend sich selbst und anderen Gästen, ohne genau zu wissen, ob es sich um Spiegelbilder oder holografische Abbildungen handelte, die zuvor an anderen Stellen des Kabinetts aufgenommen worden waren.
Wenn sie das Holokabinett verließen, waren sie desorientiert, verschreckt, immer aber fasziniert. Das Erlebnis war so ungewöhnlich, dass die meisten Gaslightbesucher das »Holokabinett« wiederholt besuchten, öfter als jede andere Attraktion.
Diesmal freilich war die am Eingang wartende Menge nicht voll freudiger Erwartung. Besucher, die seit fast einer Stunde in der Warteschlange ausharrten, machten ihrer Frustration mit Unmutsrufen Luft, doch sie er fuhr en nur, dass das Kabinett wegen einer Betriebsstörung kurz geschlossen werden musste. Mitarbeiter in Reif- und Gehröcken kümmerten sich um die Wartenden und dämpften ihre schlechte Laune mit Gutscheinen und Jetons. Sarah Boatwright, die mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem Haupteingang stand, war im Nebel fast unsichtbar. Sie beobachtete die Menschenmenge und drückte schützend eine Hand auf die DVD in ihrer Jackentasche.
Hoch über ihr, in der gnadenlosen Sonne Nevadas, schien der kühle, feuchte Nebel von Gaslight da unten wie der Traum von einer freundlicheren Welt. Der als Water Buffalo bekannte Mann hatte seine Tätigkeit beendet. Er saß nun in einer Rinne und ruhte sich in dem Schatten aus, den die glatte Wölbung der Utopia-Kuppel warf. Vor ihm lag ein Walkie-Talkie, daneben eine Wasserflasche aus Plastik. Das Proust-Buch lag auf seinem Schoß. Er las langsam darin, sorgfältig und bedächtig. Von Zeit zu Zeit schaute er von dem Buch auf, hob den Kopf und beobachtete über den felsigen Rand des Steilabbruchs hinweg die lange, dämmerige Straße, die sich tief unter ihm vom Mitarbeiterparkplatz fortschlängelte und im trockenen Tafelland der Yucca Fiats verschwand.
Fünfundzwanzig Kilometer weiter, außerhalb seines Blickfeldes, fuhr en zwei Fahrzeuge über den Highway 95 nach Nordwesten. Der hintere Wagen war eine nagelneue Limousine, auf deren Armaturenbrett ein bernsteinfarbenes Blinklicht steckte. An der Scheibe der Fahrerseite war außen ein klotziger Suchscheinwerfer befestigt. Auf beiden Seiten des Kofferraums wippten lange Peitschenantennen. Der Wagen war zwar weiß gespritzt, wirkte aber aufgrund des Staubes, den das Fahrzeug vor ihm seit vielen Kilometern aufwirbelte, völlig braun.
Das erste Fahrzeug war ein gepanzerter roter Ford F8000. Weiße Streifen verliefen um seine Schießscharten und Scheibenrahmen. Der Zehngangdiesel grollte traurig vor sich hin, weil er das Gewicht des viertelzölligen Stahls tragen musste, der die Karosserie umhüllte. Ein einsamer Wachtposten saß auf der Ladefläche. Er lehnte mit dem
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