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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lowery
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Bild
    Erwartungsgemäß drohte Ste an, mich umzubringen. Mum sagte, er sei zu Recht wütend. Ste sagte gut und heiße das, dass er mich jetzt umbringen könne? Mum schien ernsthaft darüber nachzudenken, bis Lucy sagte, natürlich nicht, er solle nicht albern sein, es sei bloß ein Unfall gewesen, und ob Ste sie bitte nach Hause fahren könne. Als Lucy ging, hauchte ich ihr ein Danke zu, doch Ste raunte mir ins Ohr, ich könne nicht den Augenstern eines Mannes verunstalten und erwarten, dass ich dafür keine Prügel bezöge. Auch wenn das für mich keinen großen Sinn ergab, kam die Botschaft laut und deutlich bei mir an.
    Als die beiden weg waren, wollte ich gerade tief Luft holen und mich entspannen, als Mum plötzlich die braune Verpackung des Bildes aufriss, das Lucy vorbeigebracht hatte.
    »Das ist einfach schön«, gurrte sie.
    Das war unfair. Nach allem, was sich zugetragen hatte, war ich nicht darauf vorbereitet. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Meine Reflexe waren außer Kraft gesetzt. Meine Verteidigung war durchbrochen.
    Ohne nachzudenken, betrachtete ich das Bild.
    O Gott, es war schrecklich.
    Kennt ihr den Ausdruck »bis ins Mark erschüttert«? Bis zu diesem Augenblick hatte ich immer gedacht, das sei nur eine leere Redensart, doch ich spürte buchstäblich, wie mein Knochenmark in Eissplitter zersprang.
    Mir wird immer noch schlecht, wenn ich das Bild beschreibe, aber ich will’s versuchen. Es war eine Bleistiftzeichnung, auf der meine Eltern unbekleidet nebeneinander saßen. Ich konnte alles sehen. Und ich meine
wirklich alles
. In allen peinlichen, abstoßenden, deutlichen Einzelheiten. Ich dachte, sie in natura gesehen zu haben, sei schon schlimm genug, aber das hier war noch schlimmer. Es war ein Standbild, ein ekelhaftes, detailliertes Standbild des wahrscheinlich schlimmsten Augenblicks in der Geschichte der Menschheit: der Augenblick, in dem meine Eltern nackt Modell standen.
    Aus irgendeinem Grund hatte Dave im Hintergrund noch jede Menge Panzer gezeichnet, die auf sie zurumpelten, und ein Kampfflugzeug, das in einem Feuerball auf die Erde stürzte. Die hatten sich vermutlich nicht in Miss Skinners Klassenzimmer befunden, aber man weiß ja nie. Das Unglück war, dass Dave überraschend gut zeichnen konnte – ein Unglück nur, weil das Bild deshalb noch realistischer aussah.
    »Mir ist schlecht«, sagte ich.
    »Sei nicht albern«, fauchte Mum. »Roy, komm her und schau dir das an.«
    Dad kam ins Zimmer. In den letzten paar Tagen hatte er sich immer öfter allein nach oben verzogen. »Oh. Oh, das ist …«
    »Wundervoll, nicht wahr?«, sagte Mum strahlend. »Hol mal den Hammer und ein paar Nägel.«
    Dad fiel die Kinnlade runter. »Was soll ich holen?«
    »Das hast du doch gehört«, sagte Mum. »Lass es uns aufhängen. Direkt neben der Haustür wäre perfekt.«
    »Wo?«, fragten Dad und ich gleichzeitig.
    Dad rang die Hände. »Hör mal. Das müssen wir erst besprechen. Vielleicht können wir es im Gästezimmer aufhängen.«
    »Unsinn«, sagte Mum. »Da sieht es ja keiner.«
    »Genau«, wagte Dad zu sagen.
    Mum kniff die Augen zusammen. »Und warum sollten wir das wollen?«
    »Äh, vielleicht sollten wir das nicht in Michaels Beisein besprechen«, schlug Dad vor.
    »Ha«, rief Mum. »Du bist genauso schlimm wie er. Jetzt hör mal zu, Roy. Wir haben vereinbart, das Ganze zusammen durchzuziehen und keine halben Sachen zu machen. Dieses Bild kommt neben die Haustür. Es sieht schön aus und ist nichts, was man verstecken oder wofür man sich schämen müsste. War das nicht der Grund, warum wir unser Nacktsein öffentlich gemacht haben? Damit wir frei sein und endlich die dummen Vorurteile der Gesellschaft abwerfen können.«
    Dad nickte traurig und schlich aus dem Zimmer, um Hammer und Nägel zu holen.
    Was für ein Waschlappen.
    Ste revanchiert sich
    Der nächste Tag war Samstag. Meine Eltern waren abends bei Dave King und seiner Frau zu Besuch. Mum war vorher total aufgeregt gewesen und hatte ständig zu Dad gesagt, dass Dave »alles ermöglicht«. Ich konnte es kaum glauben. Es war aus ganz vielen Gründen falsch.
    Warum sollte jemand Lust haben, seine Zeit mit Dave King zu verbringen? Er ist wahnsinnig. Das Einzige, was er mir je ermöglicht hat, sind Asthmaanfälle.
Was hatten meine Eltern vor? Ich meine, ihre Nacktheit war schon schlimm genug, aber diese ganze Heimlichtuerei machte mich nervös. Soweit ich wusste, hatten sie noch nie Freunde gehabt, warum also jetzt auf

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