Das Perlenmaedchen
verstrichen waren und die ihm noch blieben. H’meen hatte neben ihren botanischen Büchern auch eines bei sich, das sich mit Astronomie befasste. Es enthielt ein Diagramm des Himmels sowie eine Vorausschau auf Sonnen- und Mondfinsternisse. In einem anderen Buch war der Maya-Kalender verzeichnet, und das nahm sie zur Hand, wann immer Chac fragte: »Welchen Tag haben wir heute?«
Da die Maya versessen auf Aufzeichnungen waren, hatte H’meen außerdem eine Reisechronik begonnen, in der sie jeweils abends festhielt, was sich tagsüber ereignet hatte.
Sie hatte noch weitere Talente entdeckt, die in ihr schlummerten. Nachdem Einauge aus Gründen, die niemand kannte, verschlossen und depressiv geworden war und sich auch weigerte, Tonina weiterhin Sprachunterricht zu erteilen, hatte H’meen diese Aufgabe übernommen und gemerkt, dass sie zur Lehrerin geboren war. Wie schön es doch wäre, noch viele solch aktive Jahre zu erleben, eine Zukunft zu haben anstelle mit nicht einmal zwanzig Jahren an Altersschwäche zu sterben!
Noch nie war ihr das Leben so lebenswert und gleichzeitig so kurz erschienen.
Sie griff nach ihrer Arzneitasche und eilte zum nächsten Patienten.
Tonina entfachte, nachdem sie an den Stufen eines nicht mehr benutzten Tempels ein geeignetes Plätzchen für sich gefunden hatte, ein kleines Feuer. Im Lager ging es überraschend manierlich zu – wenn man bedachte, dass sich Chacs Gefolgschaft mittlerweile auf gut und gern hundert Menschen belief. Einige neue Gesichter waren darunter, aber viele kannte Tonina bereits aus Mayapán. Unterwegs waren drei aus der Gruppe begraben und zwei Babys geboren worden. Wenn sie durch Siedlungen und kleinere Städte kamen oder unweit von Bauernhöfen ihr Nachtlager aufgeschlugen, waren einige geblieben, während sich andere dem Trupp angeschlossen hatten.
Tonina spähte durch die raucherfüllte und jetzt, da der Tag sich neigte, zusehends dunkler werdende Atmosphäre. Sie entdeckte H’meen, die, ganz in Weiß gekleidet, ein Tuch um das bleiche Haar geschlungen, neben einer Schwangeren kniete und ihr etwas zu trinken einflößte. Wie ein Leuchtturm stach sie aus der Dunkelheit heraus.
Auch nach Einauge hielt Tonina Ausschau. Abgesehen davon, dass er seinen Sprachunterricht eingestellt hatte, lud er nicht länger Frauen ein, sein Feuer und sein Bett mit ihm zu teilen. Warum er in sich gekehrt und verstockt war, wusste sie nicht. Als Antwort auf ihre entsprechende Frage hatte er nur gegrunzt.
Zu guter Letzt und wie immer sah sie sich nach Chac um. »Ich bin kein Anführer«, hatte er gesagt. Dennoch folgten ihm all diese Leute voller Vertrauen. Er hatte sie aufgefordert, jemanden aus ihrer Mitte zu wählen, um eventuelle Meinungsverschiedenheiten zu schlichten, aber das hatten sie nicht getan, sondern ihre Beschwerden ihm vorgetragen und um seine Beurteilung gebeten. Und obwohl er immer wieder eine Vorzugsbehandlung ablehnte, ließen es sich Haarlos, der behaarte Bienenzüchter, sowie die sechs Neun Brüder (die nie zu neunt gewesen waren, sondern diese Glückszahl ihrem Club aufgedrückt hatten, der ihren heldenhaften Spieler Chac unterstützte) samt ihren Ehefrauen nicht nehmen, Chacs Lager herzurichten, ihm Essen zu bringen und ihn mit allem Nötigen zu versorgen.
Chac stand gegenwärtig vor dem höchsten Tempel und blickte zur Spitze hinauf.
Tonina kannte sich mittlerweile mit Pyramidentempeln aus. Auf dem Weg von Uxmal nach Tikal hatten sie zahlreiche Bauwerke dieser Art gesehen. Alle waren vor Hunderten von Jahren errichtet worden, von Menschen, die längst vergessen waren. Viele dieser Tempel erfüllten keine Aufgabe mehr, manch einer war bereits völlig überwachsen und ähnelte einem natürlichen Hügel. Einige jedoch, vor allem in belebten religiösen Zentren, wurden noch genutzt und waren in gutem Zustand. Aber keines dieser Hunderte von Bauwerken konnte es mit den atemberaubenden Tempeln von Tikal aufnehmen.
Wie Wellenberge aus dem Meer erhoben sie sich anmutig aus dem Dschungel, mit unglaublich steilen Mauern und Treppen und so hoch, dass sie den Himmel zu berühren schienen. Gekrönt waren sie mit eigenartigen Quadern, die offenbar keinen besonderen Zweck erfüllten. Wer hatte solche Monumente errichtet und wozu? Und wie, überlegte Tonina und dachte an den dichten grünen Dschungel, durch den sie gezogen waren, wie hatte man es bewerkstelligt, solch mächtige Blöcke aus dem Kalksandstein herauszuschlagen, hierher zu schaffen und dann
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