Das Perlenmaedchen
um seinen Hals, und gleich darauf baumelten seine Füße in der Luft.
»Spionierst du mir nach?«
»Nein, Herr«, krächzte Einauge. »Das schwöre ich bei den Knochen meines Urgroßvaters!«
Balám beugte sich zu ihm. »Lass dir eins gesagt sein, Affenkopf«, zischte er. »Hör auf, mir mit deinem kleinen bösen Auge nachzuspionieren. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, spieße ich deinen hässlichen Körper der Länge nach auf und brate dich wie einen Hund.«
33
Es war eine Geisterstadt.
Als die Gruppe an verlassenen Häusern und verwüsteten Tempeln, an dunklen Fenstern und offen stehenden Türen vorbeizog, sahen alle auf Chac, der unbeirrt über die von Unkraut überwucherten Fußwege voranging. Allein ihn vor sich zu sehen, war beruhigend, hochgewachsen wie er war und so zielstrebig wie er ausschritt, so beherzt, ohne Angst zu zeigen. Und neben ihm, fast ebenso groß, Tonina, die sie zu der wundersamen Blume führen würde, in die sie ihre Hoffnungen setzten.
Die späte Nachmittagssonne versank gerade hinter den hohen Zedern am Rande der ausgestorbenen Stadt, exotische Vögel kreisten am Himmel, auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Wie um die schweigende Prozession zum Sprechen zu ermuntern, erfüllten Affen und Baumfrösche die Luft mit den ihnen eigenen Lauten.
Aber keiner äußerte ein Wort.
Sie waren müde und sehnten sich nach einer Rast. Von Uxmal aus hatten sie nach zwanzig Tagen endlich die Region Quatemalán erreicht. Hinter ihnen lag die Weiße Straße, der dürre Wald war nach und nach in Regenwald übergegangen, in dem die Bäume von Schlingpflanzen schier erdrosselt wurden und Farne, Pflanzen, Pilze und Moose dicht an dicht wuchsen, alles in Grün getaucht war. Dann war die Landschaft hügelig geworden, mit Bächen und sumpfigen Abschnitten, und jetzt stand die Luft heiß und feucht. Es war eine andere Welt, eine beschwerliche Welt.
Da es viele Gürteltiere und Tapire gab, hatten sie immer genügend zu essen gehabt. Sie waren Jaguaren und Pumas begegnet, Tukanen und Papageien; Ringelblumen und Dahlien reckten ebenso wie Bromelien und Orchideen ihre Blüten der Sonne entgegen. Der Trupp war auf steinerne, mit Moos und Flechten überwucherte Götterstatuen gestoßen. Über eine Hängebrücke, die Generationen zuvor angebracht worden war, hatten sie eine tiefe Schlucht überquert. Bald war der Dschungel so dicht geworden, dass einer hinter dem anderen laufen musste, vorneweg zwei der Neun Brüder, die aus freien Stücken die Sicherung übernommen hatten: einer hielt nach Raubkatzen in den Bäumen Ausschau, der andere suchte den Boden nach Giftschlangen ab.
Da sich in der Region, durch die sie in den vergangenen drei Tagen gezogen waren, angeblich Geister und Phantome herumtrieben, hatten sie sich nach den Annehmlichkeiten und der Geborgenheit einer Stadt gesehnt. Jetzt aber, auf der Hauptstraße nach Tikal, gab es niemanden, der ihnen ein Willkommen zurief, keine Wachposten, kein Licht in den Fenstern. Die langsam vorwärts kommende Menge war nervös und gereizt und lauschte verängstigt auf unheimliches Geheul und Erscheinungen, die aus dem Nichts auftauchen konnten.
Die drei, die die Spitze bildeten, verschwendeten keinen Gedanken an Dämonen und Geister. Chacs Überlegungen kreisten um die Vereinigung in Mayapán und seinem Durst nach Rache. Tonina sorgte sich um Chacs Gemütsverfassung. Und Einauge wollte sterben.
Obwohl der Taíno-Händler versucht hatte, Schritt zu halten, hatte er sich letzten Endes der Demütigung aussetzen müssen, ebenfalls getragen zu werden. Der Anstoß war von H’meen gekommen, als sich gezeigt hatte, dass der Zwerg nie und nimmer Chacs neuem Tempo zu folgen vermochte. Seit seinem Treffen mit Prinz Balám schritt Chac noch zügiger aus. Er hatte es eilig, und wohl oder übel hasteten die anderen hinter ihm her.
Mürrisch hatte sich Einauge H’meens Vorschlag gefügt und hockte beim Einzug in Tikal auf den kräftigen Schultern eines ihrer Bediensteten. Sie ritt neben ihm, in ihrem Korb, auf dem Rücken eines weiteren Dieners. Das Lächeln, mit dem sie Einauge bedachte, verfing nicht. Er schmollte.
Er hatte niemandem erzählt, dass er Balám dabei beobachtet hatte, wie er sich all den Vergnügungen hingegeben hatte, denen er angeblich doch entsagen wollte. Die Lügen und die Doppelzüngigkeit des Prinzen tangierten Einauge ebenso wenig wie der Umstand, dass er vielleicht durchaus nicht in edler Absicht mit Chac Frieden geschlossen hatte
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