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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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aufeinanderzutürmen?
    Ihr Blick glitt wieder zu Chac, der allein am Fuße des von Menschenhand gefertigten Kolosses stand. Selbst aus dieser Entfernung und durch die vom Rauch der Lagerfeuer vernebelte Plaza wirkte er angespannt. Sie wusste, dass seine Gedanken ausschließlich darum kreisten, nach Mayapán zurückzukehren und an den Mitgliedern der Vereinigung Rache zu üben. Doch warum starrte er dieses heilige Bauwerk an, das einem unbekannten Gott geweiht war?
    Und dann merkte sie, dass er betete.
    Es war ihm zur Gewohnheit geworden, abends Gebete zu flüstern und den Göttern seinen Respekt zu erweisen. Häufig ging er dazu allein in den Dschungel, gelegentlich aber murmelte er, die kleine Statue des Kukulcán in den Händen, die Litanei an seinem Lagerfeuer. Wenn er sich irgendwann einmal Tonina gegenüber als nicht religiös bezeichnet hatte, schien sein jetziges Verhalten im Widerspruch dazu zu stehen.
    Nachdem Chac seine abendlichen Gebete beendet hatte, blickte er zum Himmel empor, so als huldige er im Stillen dem massiven Steinbau zu Ehren der Götter, und als sein Blick ganz oben angelangt war, legte er unvermittelt die Hand auf die Brust und trat einen Schritt zurück.
    Tonina, die sich diese Geste nicht erklären konnte, folgte seinem Blick und entdeckte durch die dichten Bäume, die den obersten Teil des Tempels abschirmten, die aus den Baumwipfeln ragende steinerne Krone, golden erhellt von der sinkenden Sonne, die auf der bereits dunkel werdenden Plaza nicht länger wahrzunehmen war.
    »Guay!« , stieß sie überwältigt aus und hielt den Atem an. Und wieder dachte sie an die Menschen, die sich ein derartiges auf die Sonne ausgerichtetes Bauwerk erdacht und es dann hier, inmitten dieser üppigen Vegetation, errichtet hatten.
    Als sie sich wieder Chac zuwandte, sah sie ihn mit langen Schritten zwischen zwei dunklen Tempeln verschwinden.
    Sie runzelte die Stirn. Wohin er wohl ging?

    »Wir werden beobachtet, Vetter.«
    »Ich weiß.« Seit dem Morgen, da sie sich Tikal genähert hatten, stand dies für Balám fest. Nicht zum ersten Mal. Wenn Chac mit seiner Gruppe an einem Bauernhof vorbeikam oder durch eine Siedlung zog, stürzten die Leute aus ihren Häusern, starrten und freuten sich, weil diese Fremden Abwechslung versprachen. Immer war es Chac, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Hin und wieder aber wurde sie auch Prinz Balám und seinem kleineren Trupp zuteil, die im Abstand von einem halben Tag folgten. Schließlich unterschied sich diese Nachhut doch gewaltig von der vorausgehenden Gruppe mit ihren Frauen und Kindern, Alten und solchen, die getragen werden mussten. Die zweite Abteilung dagegen bestand aus bewaffneten jungen Männern, deren langes Haar zu Schwänzen gebunden und mit Federn geschmückt war und deren Körper mit den aufgemalten Streifen sie als Krieger auswiesen.
    Balám bereiteten die heimlichen Beobachter keine Sorgen. Wichtigeres gab es zu bedenken, als er und seine Begleiter den Hügel zur Stadt hinaufstiegen. Seit seinem jüngsten Zusammentreffen mit Chac beschäftigte er sich hauptsächlich mit Racheplänen, die auf Chac und das Inselmädchen abzielten. Jeden Morgen, jeden Mittag und Abend fragte er sich: Was wäre für Chac das Schlimmste, das ihm zustoßen könnte? Balám hatte sich in Gedanken eine Liste zurechtgelegt und war die verschiedenen Möglichkeiten durchgegangen, die er immer wieder und gleichsam wie auf einem Markt zur Schau gestellte Waren überprüfte.
    Vielleicht plötzlich gelähmt zu sein, überlegte er, oder lebenslang unter Schmerzen zu leiden? Nachhaltig entstellt zu sein, was dazu führen würde, dass sich Chacs unzählige Bewunderer von ihm abwandten? Ganz oben auf Baláms Liste war vermerkt, dass Chac es nicht nach Teotihuacán schaffen durfte, um die Wiederauferstehung von Palumas Seele sicherzustellen. Eine weitere Möglichkeit wäre, es so einzurichten, dass Chac dem Inselmädchen noch mehr Dank schuldete und deshalb auf ewig an Tonina gekettet sein würde.
    Auf seinem Marsch durch den Dschungel hatte er verschiedene Optionen durchgespielt. Als wäre sein Verstand das Spielfeld und seine Überlegungen der Gummiball. Jede Aktion kostete er aus, wägte jede Strategie ab, stellte sich vor, wie er diesen oder jenen Plan in die Tat umsetzen und wie sich dies für Chac auswirken würde. Locke ich meinen geliebten Bruder im Dschungel, weitab von seinen Freunden, in eine Falle, zerschneide ich ihm die Sehnen an den Knien, auf dass er nie wieder gehen

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