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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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immer zu verändern. Eine weitere Gestalt trat jetzt aus dem Dunkel der Hütte, richtete sich im gleißenden Sonnenlicht zu voller Höhe auf.
    Als Erstes fiel Chac ihre Frisur ins Auge. Ihr Haar war hochgekämmt und an beiden Seiten des Kopfes mit farbigen Bändern zu einer Rolle eingedreht, zum Zeichen dafür, dass ihre Mädchenzeit beendet war. Die Muscheln und Perlen waren verschwunden, wie er bekümmert feststellte. Dafür brachte die hochgesteckte Frisur ihren bislang von Haar bedeckten langen, grazilen Hals zur Geltung und betonte, wie Chac befand, noch zusätzlich Toninas eindrucksvolle Größe. Die schlichte, weiße Tunika und der Rock waren farbenprächtigen, gemusterten Gewändern gewichen – in schimmerndem Grün, Blau und Rot, die ihre honigfarbene Haut aufs schönste zur Wirkung kommen ließen. Halsketten und Armbänder rundeten das Erscheinungsbild ab und verliehen Tonina das Aussehen einer Hochgeborenen.
    Noch erstaunlicher jedoch erschien ihr Gesicht. Frei von jeglicher Bemalung und Verzierung, waren ihre Gesichtszüge im klaren Morgenlicht deutlich zu erkennen – die großen, ausdrucksvollen Augen, die schmale Nase, das kräftige Kinn und die hohen Wangenknochen. Chac kam es vor, als erblickte er Tonina zum ersten Mal – als sähe er eine ihm völlig unbekannte Frau.
    Eine hinreißend schöne Frau.
    Das Herz wurde ihm schwer. Als Ixchel erst auf Nahuatl und dann in der Maya-Sprache verkündete: »Wir feiern heute ein großes Fest zu Ehren meiner Tochter Malinal«, schaute Chac Tonina, nunmehr Malinal, an und sagte sich: Ich habe sie verloren .

    Und nun kreuzten sich ihre Blicke. Chac sah ihr kleines Lächeln und zwang sich, es zu erwidern. Dann spürte er, dass ihre Verwandlung mehr beinhaltete als nur eine neue Frisur, andere Kleider und ein ungeschminktes Gesicht. Tonina war eine Fremde. Sie war eine Nahua.
    Und unversehens …
    Chac hielt den Atem an, unterdrückte einen Aufschrei. In diesem Augenblick war Tonina mehr als schön, mehr als eine verwandelte junge Frau, sie war von seinem Fleisch, seinem Blut. Sein urplötzliches erotisches Verlangen nach ihr ging mit einem Schmerz einher, der schier unerträglich war. Noch nie hatte er eine Frau so inbrünstig und leidenschaftlich begehrt wie in diesem überwältigenden Moment Tonina.
    Und dann schienen ihm seine Augen einen Streich zu spielen. Anstelle von Tonina sah er das Bild einer Frau aus lang vergangener Zeit. Seine Mutter, jung und schön, gerade nach Mayapán gekommen und noch nicht mit den Gepflogenheiten der Maya vertraut. Sie trug ihr Haar zu zwei Rollen aufgebunden, eine bunte Tunika über einem bunten Rock, und erzählte ihrem kleinen Sohn auf Nahuatl die Sagen und Geschichten ihres Volkes und … Chac entrang sich ein gurgelnder Schrei.
    Chapultepec.
    Das war es! Dieses Wort, dieser Name, an den er sich, seit er Mayapán verlassen hatte, zu erinnern suchte, den ihm seine Mutter eingeschärft und den er vorsätzlich vergessen hatte. Chapultepec! Die Erinnerung kehrte zurück, alles kehrte zurück …
    Wie erstarrt stand er da, während die Welt um ihn herum sich so drastisch verwandelte, dass er meinte, die Sonne würde gleich vom Himmel herabfallen. Er drehte sich um, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, vorbei an der Grashütte und der davor stehenden fremden Frau, und lief in den Dschungel, der die kiesgraue Bucht säumte. Blindlings stolperte er vorbei an Palmen, durch Farnkraut und Kletterpflanzen, kämpfte sich, mit angehaltenem Atem ein Schluchzen unterdrückend, durch riesige grüne Stauden und vorbei an Lianen, bis er nur noch von Dickicht umgeben war – ein von aller Welt verlassener Mensch, namenlos und ohne Schutz.
    Er sank auf die Knie und weinte hemmungslos. Seine Brust bebte, während jahrelang aufgestaute Gefühle sich Luft machten. Die unsichtbaren Mauern in seinem Inneren stürzten ein, Barrieren, die ihn über lange Jahre vor ungewollten Erinnerungen geschützt hatten, lieferten ihn einem Ansturm von Bildern, Visionen und Erinnerungen aus. Begriffe aus seiner Vergangenheit überfielen ihn – auakatl … chichiltik … kali … kuakuake . Willkürliche Wörter, ohne Zusammenhang, deren Bedeutung er dennoch kannte: Avocado … rot … Haus … Käfer.
    Nahuatl. Die Sprache seiner Kindheit.
    Er kauerte auf dem Dschungelboden, während die Vergangenheit ihn wie ein Tropenregen überschwemmte: brütende Hitze in der königlichen Küche, seine Mutter, mit den niedrigsten Arbeiten betraut, beim Schrubben von

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