Das Perlenmaedchen
wandte sie sich ab, damit H’meen nicht merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.
Warum fiel er ihr ausgerechnet jetzt ein? Sie sah ihn so deutlich vor sich, als ob er neben ihnen stünde. Sogar seinen Geruch meinte sie wahrzunehmen – Schweiß, vermischt mit dem Duft von grünen Blättern und Gras –, und ihr war, als hörte sie seine gedämpfte und doch nachdrückliche Stimme. Sie spürte gleichsam seine Nähe, seine Hände auf ihren Schultern, seinen Atem an ihren Wangen.
Ein zufälliger Gedanke, mehr nicht, sagte sie sich und zwang sich, bei dem Thema zu bleiben, das die Pflanzenkundige angeschnitten hatte. Liebe und Sehnsucht hatten, wie Tonina sich einredete, nichts, aber auch gar nichts mit Chac zu tun.
Sie wusste, warum H’meen einmal mehr auf die Liebe zu sprechen gekommen war. Die gebrechliche kleine Kind-Frau, die unwahrscheinlich gut über Pflanzen Bescheid wusste, über Arzneien, die Sterne und das Übernatürliche, hatte so abgeschieden gelebt, dass sie nichts von dem, was in der Welt geschah, mitbekommen hatte. Deshalb tauschten die beiden nun Informationen aus – da Tonina die rote Blume suchte, hatte H’meen sie in die Botanik und in das Wissen um Kräuter eingeführt, und im Gegenzug klärte Tonina sie über menschliche Verhaltensweisen und das Leben auf. »Ich lerne selbst noch«, hatte sie gewarnt, und H’meen hatte erwidert: »Auch ich lerne immer noch dazu, denn jetzt entdecke ich Bäume und Blumen, von denen ich bislang nichts wusste.«
Stets hatte H’meen ihr Botanikbuch zur Hand, in dem sie alles, was ihr an Neuem unter die Augen kam – und das war viel –, notierte. Inzwischen sah sie die Welt so, wie die Götter sie erschaffen hatten. Bäume, die aus dem Boden wuchsen und nicht aus Tontöpfen! Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung anstatt in eigens angefertigten Kästen oder am Spalier! Bei jeder kleinen Knospe, jedem Zweiglein jauchzte sie auf, und nicht minder begeistert war sie, als sie herausfand, wie viele verschiedene Arten von Vögeln und Schmetterlingen es gab. Ihre Schreibfedern und Tuschen waren ständig im Einsatz, Seite um Seite mit neuen Beobachtungen zu füllen.
H’meen hatte zugegeben, dass sie die rote Blume für ihre eigenen Zwecke zu finden hoffte, auf dass ihre Heilkraft sie davor bewahre, vor ihrem fünfzehnten Geburtstag an Altersschwäche zu sterben. Deshalb hatten die beiden immer wieder hin und her überlegt, wie die Blume zu verwenden sei. H’meen meinte, die heilsame Kraft könnte von den Blütenblättern ausgehen oder aber von den grünen Blättern oder dem Stängel, aber auch vom Stempel oder den Staubgefäßen, manchmal auch von den Wurzeln. Dies würde sie, wie sie sagte, beizeiten erfahren, da die Geister in den Pflanzen zu ihr sprächen.
Natürlich müsste alles heimlich vor sich gehen, noch ehe die anderen vom Auffinden der Blume erfuhren. H’meen und Tonina hatten vor, ihre Entdeckung erst dann mit den anderen zu teilen, wenn sie selbst genug Blüten gepflückt hatten und nicht befürchten mussten, dass die Horde gierig darüber herfiel und nichts mehr übrig ließ. Deshalb unternahmen sie ihre Streifzüge im Wald allein. Obwohl Chac Regeln aufgestellt hatte und die Gruppe zur Vernunft gekommen war, machte sich Tonina weiterhin Sorgen, wie die Verzweifelten reagieren würden. Was würde Chac tun, wenn die Blume entdeckt wurde und die Meute daraufhin durchdrehte?
Das kurze Haar gesträubt, Öhrchen gespitzt, fing Poki unvermittelt zu kläffen an.
»Was hat denn mein kleiner Schlingel wieder zu schimpfen?«, fragte H’meen zärtlich. Ihr Bediensteter hingegen, ein stämmiger Mann mit schräg stehenden Augen, sprang bereits alarmiert auf.
Tonina zog ihr Messer aus ihrem Gürtel und ging langsam auf das Dickicht zu, dem Pokis Aufmerksamkeit galt, tauschte einen Blick mit dem königlichen Bediensteten und bedeutete ihm, sich von rechts zu nähern. Sie selbst wollte sich von links anschleichen, derweil H’meen auf ihrem Holzklotz verharrte und auf Poki einredete, als wäre alles in schönster Ordnung.
Lautlos beschrieben die beiden Späher einen großen Bogen, als zwischen den Bäumen plötzlich ein Mann vor Tonina aufsprang. »Tu mir nichts!«, flehte er mit erhobenen Händen.
Tonina und der Bedienstete starrten den Eindringling an, einen Maya mit fliehender Stirn, breiter, fleischiger Nase und dem charakteristischen Überbiss. Er war nicht übermäßig groß und eher gedrungen denn sehnig, trug ein einfaches Lendentuch und
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