Das Perlenmaedchen
dass er gar nicht auf den Gedanken gekommen war, sie könnte auch weinen. »Dies ist dein Land«, sagte sie gepresst, »nicht meins. Ich möchte gar nicht hier sein, sondern wieder am Meer. Bei meinen Delphingeistern.«
Toninas so lange unterdrückte Gefühle brachen jetzt aus ihr heraus wie das Süßwasser aus dem artesischen Brunnen auf der Perleninsel. »Ich sehne mich danach, wieder im Wasser zu sein, in den Wellen, in meine stille Welt unter Wasser hinunterzutauchen!«, rief sie. »Ich sehne mich danach, unbeschwert mit den Fischen zu schwimmen. Ohne das Meer bin ich nichts.«
Die Leidenschaft, die aus ihr sprach, überraschte Chac. Er wusste nichts darauf zu antworten. Nur einmal war er kurz am Meer gewesen, als die Mannschaft von Mayapán zu einem Wettkampf in Campeche antreten musste. An den Strand war er nicht gegangen, hatte aber von einer Anhöhe aus auf die unglaublich große Wasserfläche geschaut, die sich bis zum Horizont erstreckte. In solchen Gewässern ertranken Menschen oder wurden von grässlichen Ungeheuern darin verschlungen. Wie konnte sie sich für derart Entsetzliches und Zerstörerisches begeistern?
Er meinte, eine andere Stimme zu hören, die von Paluma, bevor sie geheiratet hatten. »Warum hängst du einem Sport an, der so viele körperliche Schmerzen bringt und dich sogar das Leben kosten kann?«
Er hatte noch nie über seine Leidenschaft für das Ballspiel nachgedacht, nie darüber, warum er unbedingt spielen wollte oder mit welchem Hochgefühl er gegen einen starken und geschickten Gegner antrat. Auf dem Spielfeld war er weder Maya noch Chichimeke, sondern einzig und allein ein kraftvoller Körper aus Muskeln und Blut. Eben er selbst. Empfand Tonina ebenso, wenn sie ans Meer dachte?
Verwundert stellte er fest, dass sie sich zwar unterschieden – sie stammte von den Inseln, er war ein Maya-Held –, aber in einer Hinsicht ähnlich waren: in ihrer Liebe für etwas, das ihnen mehr bedeutete als alles andere.
Er trat zurück, ließ, bestürzt über diese Erkenntnis, die Arme sinken. Unsinn. Wir sind uns nicht ähnlich. Ganz und gar nicht ähnlich.
Um sie aber zu überreden, zum Lager zurückzukehren, würde er tun, was sie verlangte – unter den Leuten für Ordnung sorgen. Nicht für Tonina wollte er das tun, sagte er sich, sondern für Paluma. Wenn Tonina recht hatte und dieser Pöbel die rote Blume vernichtete, dann würde er nie allein gen Norden ziehen können, nach Teotihuacán.
31
Am folgenden Morgen rief Chac das Lager zusammen. Es wurde still, aller Augen waren auf ihn gerichtet.
Ich bin kein Anführer, dachte er, als er die erwartungsvollen Gesichter sah. Und dann kamen ihm die Worte seiner Mutter aus längst vergangenen Tagen in den Sinn: »Erweise dich niemals als Versager, mein Sohn.«
Er war sich seit jeher bewusst, dass er nicht versagen konnte, solange er sich nicht anmaßte, über seine Grenzen hinauszugehen. Deshalb hatte er stets abgelehnt, Kapitän seiner Mannschaft zu werden. Auch jetzt wollte er dies nicht tun, aber als er Tonina ansah und an ihre nächtliche Auseinandersetzung dachte, begriff er, dass er nun diese Grenzen neu ausloten musste.
Er war nervös. Chac war kein geübter Redner und nicht gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen. Ich bin ein Mann der Tat, nicht der Worte, sagte er sich, als er sich zu voller Größe aufrichtete. Und dann überlegte er, dass Worte in gewisser Weise Taten waren, und sagte gebieterisch: »Auch wenn ihr mir in gebührendem Abstand folgt, müsst ihr euch an meine Regeln halten. Verzögerungen werden ab sofort nicht mehr geduldet. Wir müssen zügig vorankommen. Wenn ihr nicht Schritt halten könnt, kehrt um und geht nach Hause.«
Er legte eine Pause ein und sah jedem ins Gesicht, nicht anders als sein Trainer es auf der Akademie getan hatte, um seine Spieler zu beschwören. »Alle müssen sich an der Jagd beteiligen oder beim Sammeln, jeder hat seinen Beitrag zu leisten«, sagte er in Anlehnung an den Ehrenkodex der Akademie, der sich auf Vertrauen, Anstand, Ehrlichkeit und Respekt gründete. »Nahrungsmittel sind Gemeingut. Das Essen wird folgendermaßen verteilt: zuerst die Alten, dann die Kinder, dann die Mütter und schließlich die Männer. Vor jeder Mahlzeit werden wir den Göttern ein Trankopfer darbringen und etwas von dem Essen in jedes Lagerfeuer werfen. Hütet euch vor Gotteslästerung und Frevel. Und Diebstahl. Wer immer beim Stehlen erwischt wird, dem werden die Hände abgehackt. Ehebruch wird mit dem
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