Das Perlenmaedchen
vergessen ließ, dass dies keine Frau war, die im Laufe ihres Lebens Erfahrungen gesammelt und Beziehungen unterhalten hatte. Klein und dürr, wie sie war, besaß die königliche h’meen aus Mayapán ein schmales, schrumpeliges Vogelgesicht. Keine Augenbrauen, keine Wimpern. Mit ihrer runzligen Haut und dem wuscheligen weißen Haar wirkte sie wie eine Hundertjährige. Und war nicht einmal fünfzehn.
»Etwas anderes als den Palast und die Terrassengärten habe ich nie kennengelernt«, hatte die Kind-Frau gesagt, als Einauge und seine Gruppe im Wald zwischen Mayapán und Uxmal entdeckt worden waren. »Bevor ich sterbe, möchte ich Bäume und Blumen in ihrer natürlichen Umgebung erleben. Ich sehne mich nach der Landschaft, wie die Götter sie erschaffen haben. Wenn die Blume, von der du sprichst, tatsächlich existiert, kann sie vielleicht meinen schnellen Alterungsprozess rückgängig machen und mich noch ein Weilchen länger leben lassen. Da mir, wie es bis jetzt aussieht, nur noch wenige Jahre vergönnt sind, werden bereits drei h’meen- Lehrlinge ausgebildet, um meine Nachfolge anzutreten. Mich wird man dann bald vergessen haben.«
Im weiteren Verlauf der Reise hatte H’meen, wenn sie mit Tonina am Lagerfeuer saß und die beiden sich näher kennenlernten, erzählt, dass sie nicht wisse, welche Kräuter der vormalige h’meen ihr im Kindesalter verabreicht habe, um ihre geistige Entwicklung und ihre Auffassungsgabe zu beschleunigen. Leider war dadurch auch ihre körperliche Entwicklung rasant vor sich gegangen. »Nicht in die Höhe«, hatte sie gelacht, »sondern voran. Ich bin nicht groß geworden, sondern alt.«
Die Frage nach der Liebe, die sie jetzt gestellt hatte, machte Tonina traurig, wusste sie doch, dass dieses bemitleidenswerte Mädchen weder Liebe und romantische Träumerei noch eheliche Freuden und Mutterschaft erfahren würde. Deshalb wollte sie ihr eine Antwort geben, mit der sie etwas anfangen konnte. Sie schaute in den Kelch der roten Blüte in ihrer Hand – die leider nicht die gesuchte Blume war – und dachte zunächst an Macu, in den sie verliebt gewesen war und in dem sie sogar schon ihren künftigen Ehemann gesehen hatte, dann an Tapferen Adler, den sie geliebt hatte und noch immer liebte – »Wir sehen uns wieder«, hatte er ihr im Traum versprochen –, aber verliebt ? Romantische Sehnsucht? »Nein, H’meen«, sagte sie schließlich, »verliebt war ich noch nie.«
Mit einem Seufzer ließ sich die Pflanzenkundige auf einen umgestürzten Holzklotz sinken. Hinsetzen musste sie sich häufig. Wenn sie mit der Gruppe unterwegs war, die Chac und Tonina folgte, wurde sie in einen speziellen Korb gesetzt, den sich einer ihrer Bediensteten auf den Rücken schnallte. Während ihre Beine aus Öffnungen in dem Weidengeflecht baumelten, konnte sie den Weg überblicken, den sie bereits zurückgelegt hatten. Dennoch ging sie gern ein Stück zu Fuß, wann immer es sich einrichten ließ.
»Einauge ist entzückend, findest du nicht auch?«, brachte sie schüchtern vor und dachte an ihren galanten Retter, der sie im Gegensatz zu den anderen nicht einfach H’meen nannte, sondern »meine Dame«. Niemals würde sie den Morgen vergessen, als er in den Garten auf der Terrasse gekommen war und sich erboten hatte, ihr etwas von der Welt zu zeigen. Vor Dankbarkeit war H’meen in Tränen ausgebrochen. Er hatte gesagt, dass man auch ihm verwehrt habe, Tonina auf ihrer Suche nach der roten Blume zu begleiten, und da er das ungerecht fände, habe er beschlossen, den Spuren von Tonina und Chac zu folgen.
Sie hatte ihre Bediensteten gerufen, ihre Bücher und ihren Reisestuhl herbeischaffen lassen, und noch ehe die Sonne ihren Zenit erreichte, waren sie aufgebrochen, H’meen auf dem Rücken ihres stämmigen Leibwächters, hinter ihr, mit Büchern und Schreibutensilien bepackt, die Dienerschaft, allesamt in bester Laune dem Abenteuer entgegensehend. Einer Erlaubnis des Königs hatte es nicht bedurft: Die h’meen des Palastgartens war autonom wie ein Hohepriester und niemandem außer den Göttern Rechenschaft schuldig. Dennoch hatte sie Seiner Großherzigen Güte eine Dankesbotschaft übermittelt und ihm mitgeteilt, dass ihre Lehrlinge die Pflege der königlichen Flora übernehmen würden.
Tonina war überrascht. H’meen verliebt, ausgerechnet in Einauge? Sie sah das Lächeln auf dem runzligen Gesicht und nickte. Das Herz ging wohl immer ganz eigene Wege.
Unvermittelt musste sie an Chac denken. Erschrocken
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