Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
Retsina und Crème de Cassis. Sie reichte Maria ein Glas.
»Die Gruppe bestand zu der Zeit noch aus zehn bis fünfzehn Personen. Die Treffen wurden immer konspirativer. Sie benutzten Decknamen, trafen sich auf kleinen Inseln oder in Landstraßenhotels. Je tiefer Griechenland in den Abgrund rutschte, desto radikaler wurden die Maßnahmen, die sie für nötig hielten. Eine war die Wiedereinführung der Monarchie. Es gibt noch einen griechischen König, Konstantin II. Er hat die Schwester der Königin von Dänemark geheiratet und lebt seit Jahrzehnten im Exil. Die Gruppe schickte eine Delegation nach Dänemark, einen Bischof, den Programmdirektor von Voulí TV und meinen Vater. Sie fanden Konstantin auf seiner Segelyacht, im Hafen von Trelleborg. Sie sind an Bord geklettert und haben ihm die Krone angeboten.«
»Was hat Konstantin gesagt?«
»Wenn sie noch einmal in seiner Nähe den Namen dieser verluderten Schandrepublik aussprechen, macht er den Hund los.«
Von draußen, aus dem Café tönte der Sommerhit: »Baa-baa-bi-baa-boo.«
»Bei Panourgiás wurde Krebs diagnostiziert. Sein Kehlkopf wurde herausoperiert, seitdem spricht er nur noch mit einem Apparat, den er sich an den Hals drückt. Kein Tag ohne Streiks und Demonstrationen. Neue Sparauflagen. Neue Diktate. Deutsche Unternehmer und der Wirtschaftsminister reisen an, auf der Suche nach Schnäppchen. Griechenland ist kein souveränes Land mehr. Die Politiker nicken nur noch ab, was in Berlin, Paris, Brüssel beschlossen wird. Keine Regierung löst das Problem. Und Panourgiás weiß, er hat nicht mehr viel Zeit.«
Eléni nahm ihr Halstuch ab. Maria sah den Adamsapfel.
»Männer, die Verantwortung übernehmen. Die keine Marionetten fremder Mächte sind. Die bereit sind zu handeln. Was brauchen diese Männer? Einen charismatischen Führer, dem das Volk vertraut. Doukákis ist beim Volk beliebt. Er sieht gut aus. Er kann Reden halten. Aber er weiß, früher oder später wird das Volk sich von ihm abwenden. Weil es sich von jedem demokratisch gewählten Politiker abwendet. Er will nicht enden wie die anderen demokratisch gewählten Politiker. Er sieht sich als etwas Größeres. Er will das Land retten. Aber er braucht mehr Macht. Was ist die Lösung?«
Sie musste die Frage nicht beantworten. Immer wenn Stille eintrat, trank Eléni einen neuen Schluck oder, wenn ihr Glas leer war, mischte sich ein neues. Maria verstand, warum: Sie wollte nicht an das Video denken.
»Sie haben einen Plan entworfen. Wer ist Freund, wer ist Feind? Welche Gebäude muss man unter Kontrolle bringen? Welche Personen kann man kaufen, welche muss man verhaften? Welche Grundrechte müssen suspendiert werden, wie lange? Mit welchen Kommuniqués stellt man das Ausland ruhig? Wie viel Zeit braucht die Vorbereitung, wie viel Geld? Tausende kleine und kleinste Maßnahmen. Von ›In welchem Raum seines Palastes halten wir den Staatspräsidenten fest?‹ bis ›Wie sichern wir die Versorgung der Marinestützpunkte mit frischem Gemüse?‹ Sie haben ein Protokoll dieser Maßnahmen angefertigt. Es bestand aus zweitausendvierhundert Seiten. Sie nannten es Perseus-Protokoll.«
»Warum Perseus?«
»Die Griechen lieben ihre antiken Helden. Sie haben sonst keine. Und Perseus hat der Medusa das Haupt abgeschlagen. Genau so sahen sie sich: Helden, die für die Unterdrückten zum Schwert greifen. Es gibt noch eine Parallele. Griechenland hatte seinen letzten Putsch 1967. Damals riss eine Gruppe von Offizieren die Macht an sich. In einer Nacht schalteten sie sämtliche Gegner aus. Diese Gruppe war klein, aber sie hatte eine Geheimwaffe: den Prometheus-Plan. Er war ursprünglich mit Hilfe der CIA entwickelt worden, um Griechenland vor einer Machtübernahme durch die Kommunisten zu schützen. Die Gruppe spannte den Plan wie ein fremdes Pferd vor den eigenen Karren. So ähnlich soll es diesmal wieder laufen. Ein Anschlag, angeblich vom Ausland gesteuert. Straßenschlachten, Anarchie. Eine Gruppe verantwortungsvoller Männer schreitet ein, löst Parlament und Regierung auf, stellt Ordnung und nationale Ehre wieder her.«
Schweigen. Eléni trank. Ihr Kopf war rot geworden und glänzte. Maria sah Pigmentflecken an Schläfen und Stirn.
»Sogar die erste Rede, die Doukákis halten soll, haben sie schon entworfen. Er wird sagen, korrupte, selbstsüchtige Diebe haben Griechenland an den Abgrund geführt. Sie haben die Nation um ihren Reichtum betrogen. Die Diebe haben die Schulden gemacht, nicht das Volk. Das
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