Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
ein paar Gase, Helium, Methan …«
Erbrochenes tropfte aus den aufgerissenen Mündern. Eine Fliege, der das Gas offenbar nichts ausmachte, flog zwischen den toten Körpern hin und her. Wieder trat der Uniformierte ins Blickfeld, jetzt mit Gasmaske. Er trat hier und da gegen eine Leiche. Hob einen toten Säugling auf und ließ ihn fallen. Er stellte seinen Stiefel auf die Hand einer Frau.
»Warum tut er das?« fragte Eléni.
»Er will beweisen, dass sie tot ist.«
Er sprang auf die Hand, zerquetschte sie mit seinem Stiefelabsatz.
»Mach das aus!«, schrie Eléni.
Der Uniformierte zog das Dromedar unter dem Körper des Jungen hervor. Er hielt es nach oben, in die Kamera. Er klappte es auf: In dem Hohlraum wäre Platz für mehrere Liter Flüssigkeit gewesen. Aber er war leer – bis auf zwei winzige, geplatzte Reagenzröhrchen.
»Er will zeigen, wie wenig man braucht. Wie stark das Gas ist. Wie viele Menschen man töten kann.«
Ende des Videos.
Eléni stand auf. Hielt eine Fernbedienung Richtung Fenster. Drückte darauf herum.
»Seit zwei Monaten ist diese verpisste Klimaanlage kaputt«, sagte sie. »Weißt du, was der Vermieter sagt? Er hat kein Geld, weil die Leute ihre Miete nicht zahlen! Ich lebe in einem Backofen!!«
Sie schleuderte ein Buch gegen die Klimaanlage. Es fiel aufs Fensterbrett und warf einen Blumentopf um.
»Zahlst du deine Miete?«
»Im August? Für eine Wohnung ohne Klimaanlage?! Was redest du für eine Scheiße, Maria Brecht?!«
»Wann hast du das Video das erste Mal gesehen?«
»Vor einer Stunde.«
»Wo hast du es her?«
Eléni antwortete nicht. Stattdessen trippelte sie in die Küche. Maria hörte Gläser klirren. Die Wohnung war vollgestellt mit Nippes aus Glas und Porzellan. In den Regalen standen Bücher von Barbara Wood, Elisabeth George, Paulo Coelho. Auf dem Fensterbrett rankte sich Zierefeu an einem Gitter hoch, in dem Porzellanelfen hingen. Ihre tantenhafte Maske legte Eléni auch in der eigenen Wohnung nicht ab.
Sie kam zurück mit einer Zwei-Liter-Flasche Retsina. Aus einer Anrichte holte sie Gläser und eine Karaffe Crème de Cassis. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es gierig leer. Sie goss sich ein zweites Glas ein und leerte es zur Hälfte. Sie ließ sich in einen pastellblauen Bastsessel fallen. Sie atmete durch, als habe der Wein sie aus einem Alptraum geweckt.
»Vor zwei Monaten bekam ich einen Anruf«, sagte sie. »Ein Mann, dessen Stimme ich seit Jahren nicht gehört hatte. Der sagte, er müsse mich unbedingt sehen. Treffen in Elliníkon, nachts, am alten Flughafen. In einem Auto ohne Licht. Regen trommelt aufs Autodach, alles wie im Gangsterfilm. Bloß dass am Steuer kein Gangster saß, auch kein Held. Sondern mein Vater. Pensionierter Banker. Hohes Tier. Von jedem Minister die private Telefonnummer im Kopf. Ich war erschrocken, wie alt und verängstigt er aussah. Er hat gesagt, dass Griechenland etwas Schreckliches bevorsteht. Dass er keinen Ausweg sieht. Dass er Angst hat um sein Leben. Er gab mir einen Umschlag. Er sagte, wenn ihm etwas zustößt: In dem Umschlag sind die Namen der Hintermänner.«
»Hintermänner wovon?«
»Von dem, was Griechenland droht. 2007, vor Ausbruch der Krise, haben sie sich das erste Mal getroffen. Männer aus der Politik, der Wirtschaft, sogar der Erzbischof von Athen, Christódoulos. Sie waren sich einig, dass Griechenland auf einen Abgrund zusteuerte. Politisch, wirtschaftlich, moralisch. Sie haben diskutiert, was getan werden muss. Sie haben einen Aufruf der Dreißig veröffentlicht. Sie forderten eine Bekämpfung der Schuldenmacherei, der Korruption, eine neue Kultur der Wahrheit. Der Aufruf wurde in drei Zeitungen gedruckt, es gab ein paar Leserbriefe – das war’s. Die Männer dachten an die Gründung einer Partei. ›Wir wollten das Richtige‹, das hat mein Vater immer wieder gesagt. Aber obwohl sie alle das Richtige wollten, konnten sie sich nicht auf einen Namen für ihre Partei einigen, schon gar nicht auf ein Programm. Im Frühjahr 2010 brach die Krise voll aus. Der Erzbischof war inzwischen tot. Die Gruppe schrumpfte. Ein Anführer kristallisierte sich heraus: Rénos Panourgiás, seit Ewigkeiten Staatssekretär im Ministerium für Bürgerschutz. Seine Familie war im Krieg von den Deutschen ermordet worden. Jetzt sah er, wie die Deutschen wieder anreisten. Bücher prüften. Vorschriften machten. Firmen kauften. In Griechenland Schritt für Schritt wieder die Macht übernahmen.«
Eléni mischte
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