Das Pestkind: Roman (German Edition)
zog an den Zügeln ihres Pferdes. »Tut das. Wir sehen uns dann später, am Feuer.«
Der Kutscher hob den Hut zum Gruß. »Habt Dank, gute Milli.« Kurze Zeit später tauchte der alte Peter auf, der tatsächlich ein passendes Ersatzrad in seinem Karren hatte. »Bei Milli mag es Wein, Töpfe, Pfannen und allerlei Schnickschnack geben«, murmelte er, während er dem Kutscher dabei zur Hand ging, das Rad anzubringen, »aber von Männerarbeit hat sie keine Ahnung.« Als das Rad endlich saß, atmete Marianne erleichtert auf. Peter verabschiedete sich und einigte sich mit dem Kutscher wegen der Bezahlung. Anna Margarethe und Eugenie hatten die ganze Zeit über dösend im Wagen gesessen. Als sich die Kutsche ruckelnd in Bewegung setzte, öffnete die Generalsgattin die Augen und schaute nach draußen. Die Sonne stand bereits tief über den Feldern, dicke Quellwolken türmten sich in den Himmel, die bedrohlich dunkel waren.
»Hat wohl doch länger gedauert«, sagte sie. »Hoffentlich holen wir die anderen noch ein.« Sie sah Marianne an. »Sag dem Kutscher, er soll sich beeilen. Ich möchte ungern die Nacht allein im Wald verbringen.«
Eugenie, die jetzt ebenfalls die Augen geöffnet hatte, nickte. »Im Wald ist nicht gut allein für eine Frau.« Marianne steckte seufzend den Kopf aus dem Fenster. »Frau Wrangel möchte, dass Ihr Euch beeilt, damit wir den Anschluss nicht verlieren.«
Der Kutscher nickte und schwang die Peitsche, trieb die Pferde zur Eile an. Der Großteil des Trosses war mittlerweile an ihnen vorbeigezogen. Ruckelnd ging es über Stock und Stein. Marianne schloss irgendwann die Augen und nickte ein. Doch einige Zeit später riss sie ein heftiger Schlag aus dem Schlaf. Die Pferde wieherten laut, und die Kutsche blieb abrupt stehen. Ein weiterer Donnerschlag ertönte. Eugenie und Anna Margarethe, die ebenfalls geschlafen hatten, öffneten die Augen. Marianne schaute aus dem Fenster. Die Pferde scheuten vor einem brennenden Baum am Wegrand, und dem Kutscher gelang es nicht, sie zu beruhigen. Es ging bergab, die Kutsche wurde immer schneller und holperte über freies Feld. Marianne hörte den Kutscher laut rufen, verstand aber seine Worte nicht. Sie stieß unsanft mit dem Kopf an das Kutschendach und fiel auf den Boden. Die Kutschentür sprang auf. Eugenie rappelte sich neben ihr auf, klammerte sich an der Tür fest und blickte nach draußen.
»Der Kutscher ist fort«, rief sie.
Anna Margarethe kreischte. Die Kutsche fuhr weiter über das freie Feld und steuerte auf den Waldrand zu. Es ging eine Böschung hinunter, und Eugenie ließ die Kutschentür los. Sie wollte etwas zu den anderen beiden sagen, verlor den Halt und fiel nach draußen. Marianne schrie auf, versuchte, die Tür zu erreichen, wurde aber zurückgeschleudert. Sie erreichten den Waldrand, holpernd ging es noch ein Stück durchs Unterholz, dann kippte die Kutsche um, und Marianne schlug hart mit dem Hinterkopf auf. Alles um sie herum versank in Dunkelheit.
*
Verwundert blickte sich Marianne um. Sie saß im Rosengarten des Klosters, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und ein sanfter Wind wehte. Die Blumen blühten, und ihr betörender Duft hüllte sie ein. Sie konnte es nicht fassen, sie war zu Hause. Sie stand auf und schritt den Kiesweg entlang. Unter dem Rosenbogen stand Pater Franz. Seine Miene war ernst, er lächelte nicht. Verwirrt schaute sie ihn an. Er sah müde aus, wirkte um Jahre gealtert, seine Wangen waren blass und eingefallen, und um seinen Mund hatten sich tiefe Falten in die Haut gegraben. Sie blieb vor ihm stehen. Er sagte kein Wort zur Begrüßung, nichts. Er sah sie einfach nur an, wirkte wie eine Wachsfigur, unecht und kalt.
»Was ist passiert?«, fragte sie ängstlich.
Dunkle Wolken zogen über die Klostermauern, und die Sonne verschwand.
Pater Franz kam näher, Tränen in den Augen. Er griff nach ihrem Arm, als wollte er sich daran festhalten.
»Ich konnte es nicht, hörst du? Ich wollte ihn retten. Aber es ging nicht.« Seine Stimme wurde lauter, verzweifelter.
»Du musst ihm jetzt helfen. Hilf ihm bitte. Du musst ihm helfen, bitte!«
Marianne schlug die Augen auf und schaute in das dunkle Geäst einer großen Tanne. Ihr Kopf dröhnte. Sie blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Eben war sie doch noch im Rosengarten gewesen. Auch hier zog jemand an ihrem Arm, und eine flehende Stimme drang an ihr Ohr.
»Bitte. Du musst aufwachen! Du musst mir helfen. Ich schaffe das nicht allein.«
Anna
Weitere Kostenlose Bücher