Das Pestkind: Roman (German Edition)
Wrangel saß neben ihr. Sie blutete aus einer Wunde an der Stirn, und Tränen rannen über ihre Wangen.
»Gott sei Dank, du bist wach«, presste sie zwischen den Zähnen hervor und griff sich stöhnend an ihren Leib. »Ich dachte schon, du wärst tot. Du musst mir helfen. Das Kind kommt.«
Marianne erhob sich ruckartig. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihren Kopf, aber das war ihr jetzt egal. Ungläubig sah sie ihre zukünftige Schwägerin an.
»Aber ich habe doch gar keine Ahnung vom Kinderkriegen.«
»Dann wirst du jetzt eben lernen, wie es geht. Jedenfalls, wie man sie auf die Welt holt. Ich schaffe das nämlich nicht allein.«
Verzweifelt blickte sich Marianne um. Die Sonne stand tief im Westen, bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Hinter ihnen lag die umgekippte Kutsche. Eines der Räder war abgebrochen, die Pferde hatten sich losgerissen und waren fortgelaufen. Weit und breit war niemand zu sehen. Marianne stand auf und blickte sich um. Wo war Eugenie? Sie lief über die kleine Lichtung und trat auf das freie Feld hinaus, ignorierte die Rufe von Anna Margarethe. Sie taumelte über das Feld und kletterte einen Böschung hinauf. Oben angekommen, entdeckte sie Eugenie, die im hohen Gras lag. Eilig hastete sie zu ihr und sank neben ihr ins Gras. Leblose Augen starrten Marianne an. Sie schlug die Hand vor das Gesicht. Eugenie war tot. Schockiert stolperte sie die Böschung hinunter und landete unsanft in dem Bett eines ausgetrockneten Bachlaufs. Von fern drang Anna Margarethes Stimme an ihr Ohr. Sie sollte still sein. Eugenie war tot. War das nicht viel schlimmer, als allein im Wald zu sein. Doch dann fielen Marianne Annas Worte wieder ein. Das Kind, es würde kommen. Sie rappelte sich auf und ignorierte ihr schmerzendes Handgelenk, während sie zurück in den Wald hastete.
Anna Margarethe atmete schwer und stöhnte, als Marianne sie erreichte. Vollkommen überfordert blieb Marianne vor der Generalsgattin, die sich vor Schmerzen wand, stehen.
Was würde Milli jetzt tun, überlegte sie.
Die Sonne versank hinter einem der Baumwipfel, und sofort wurde es kühl.
Feuer. Sie brauchten Wärme. Ein Neugeborenes konnte unmöglich in der Kälte liegen. Wie man das machte, wusste sie, denn Pater Johannes hatte es ihr gezeigt.
Anna Margarethe hatte sich unterdessen beruhigt. Sie lehnte mit angewinkelten Beinen an einem dicken Baum und hatte ihre Augen geschlossen. Marianne musterte sie voller Mitleid. Sie musste schreckliche Angst haben. Unter normalen Umständen war es schon schlimm, ein Kind zur Welt zu bringen, aber hier, mitten in der Wildnis und ohne jede Hilfe, war es unvorstellbar.
»Ich mache jetzt erst einmal Feuer, das hält uns die Wölfe vom Leib.« Anna Margarethe riss erschrocken die Augen auf.
Marianne seufzte. Das mit den Wölfen hätte sie wohl lieber nicht sagen sollen.
»Wenn es die in diesem Wald überhaupt gibt.« Beschwichtigend hob sie die Hände.
Anna Margarethe entspannte sich und deutete zur Kutsche.
»Dort sind Decken und Kissen. Sie werden uns warm halten.«
Marianne nickte, holte sie und deckte Anna Margarethe fürsorglich zu. Dann lief sie über die winzige Lichtung und sammelte Reisig und trockenes Stroh.
Nach einer Weile hatte sie es tatsächlich geschafft, ein Feuer zu entzünden, und auf der Suche nach noch mehr Reisig zum Nachlegen entdeckte sie sogar einen Bach, aus dem sie mit einer der leeren Trinkflaschen Wasser holte.
Als sie fertig war, saßen die beiden Frauen schweigend nebeneinander am Feuer. Die Abstände, in denen Anna Margarethe zu stöhnen und zu jammern begann, wurden immer kürzer. Irgendwann legte sich Anna Margarethe auf die Seite und kauerte sich wie ein kleines Kind unter ihre Decke. Marianne massierte ihr hilflos den Rücken und legte immer wieder Holz nach. Sie hatte überlegt, Anna von Eugenie zu berichten, hatte den Gedanken aber wieder verworfen. Anna Margarethe würde noch früh genug von dem Tod ihrer Zofe erfahren, jetzt zählte nur die Geburt ihres Kindes.
»Erzähl mir was«, bat Anna Margarethe sie. »Irgendetwas, damit es nicht so schlimm ist.«
Marianne sah sie verwundert an.
Anna Margarethe schrie laut auf.
»Bitte. Du wirst doch etwas zu erzählen haben. Von dir, von deiner Familie.«
Marianne begann also zu erzählen. Von ihrer Mutter, von Alma und dem Gutshof. Von der Pest und Pfarrer Angerer. Davon, wie sie zu Hedwig gekommen war, und von Anderl. Sie erzählte von Pater Johannes und seinem Gemüsegarten. In allen
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