Das Pestkind: Roman (German Edition)
offenem Mund an. So viel Berechnung hatte er August nicht zugetraut. Doch dann zog er plötzlich wieder seinen größten Trumpf gegen den Mann, der anscheinend so sicher alle Fäden in den Händen hielt, aus dem Ärmel.
»Und welcher Knabe ist es heute, der auf Euch wartet?«
August wurde blass. Josef grinste.
»Glaubt nur nicht, dass Ihr mich in der Hand habt. Ich fände es sehr interessant zu erleben, was in dieser Stadt passieren würde, wenn alle erfahren, was Ihr hinter verschlossenen Türen tut.«
August Stanzinger sah Josef abschätzend an.
»Das würdet Ihr niemals tun.«
»Dann kümmert Euch endlich darum, dass der Junge hingerichtet wird, damit ich sicher sein kann, dass die Brauerei mir gehört. Und sollte Margit doch erwachen und irgendetwas erzählen, dann kann ich mich darauf verlassen, dass Ihr mir einen passenden Unschuldsbeweis verschaffen werdet.«
Aufgebracht verfluchte sich August Stanzinger mal wieder dafür, den Jungen im Feld verführt zu haben.
Grinsend wandte sich Josef Miltstetter zum Gehen.
»Einen schönen Abend noch und denkt immer daran: Nicht Ihr habt mich in der Hand, sondern ich Euch.«
B randgeruch lag in der Luft, schwarzer Rauch hüllte alles ein und verdeckte die Sonne. Marianne stand vor ihrem halb abgebauten Zelt und blickte in die Richtung, aus der der dunkle Qualm kam. Bestimmt brannte jetzt auch Millis Karren, und ihre ganze Habe wurde Opfer der Flammen. Die bunten Tücher und Stoffe, ihre Becher, Teller, Tonkrüge und die vielen wunderschönen Holzperlen und Ketten. Ihr Wirrwarr aus Schnürsenkeln, Schnupftabaksdosen, Bändern und Knöpfen aller Art, den sie in Beuteln und Dosen aufbewahrt hatte. Nichts würde übrig bleiben von den Schätzen, wie sie ihren Fundus immer liebevoll bezeichnet hatte.
Pesttote und ihre Habe wurden im Lager immer verbrannt und danach irgendwo weit ab von den Zelten verscharrt.
Albert war, seitdem er sie von Milli fortgeholt hatte, nicht mehr von Mariannes Seite gewichen, hatte sie aber nur selten berührt. Sie sehnte sich so sehr nach seinen schützenden Armen, seiner Wärme und Nähe, doch sie konnte seine Ängste auch gut verstehen. Sie hatte sich nach ihrer Rückkehr gründlich im Bach gewaschen, und ihre Kleider hatte Albert ins Feuer geworfen.
Über zwei Wochen war das jetzt her, doch weder Albert noch Marianne waren krank geworden. Dafür hatte es viele weitere Opfer gegeben, und besonders im Hurenlager, wo die Seuche ausgebrochen war, waren mehr als ein Dutzend Frauen vom Schwarzen Tod geholt worden. Im Feldherrenhof selbst war noch niemand erkrankt. Trotzdem setzte Anna Margarethe seit Tagen keinen Fuß vor ihr Zelt. Marianne hatte sich nach ihrer Rückkehr eine Weile von ihr ferngehalten, was nicht einfach gewesen war, denn die Generalsgattin wollte sie gern um sich haben. Irgendwann hatte Marianne es dann aufgegeben, sich in ihrem Zelt zu verkriechen oder einsame Ecken zu suchen, in denen sie sich mit der wenig geliebten Stickarbeit langweilte.
Anna Margarethe war es die ganze Zeit über nicht aufgefallen, dass mit ihrer zukünftigen Schwägerin etwas nicht stimmte, so sehr war sie mit sich selbst und dem Wohlbefinden ihrer Kinder beschäftigt.
Heute zogen sie weiter, irgendwohin, wo die Pest sie nicht einholen würde, das hofften sie jedenfalls.
»Woran denkst du?«, fragte plötzlich eine Stimme.
Marianne sah sich um.
Albert stand neben ihr.
»An Milli.« Marianne deutete auf die Flammen.
Er trat hinter sie, legte die Arme um ihre Taille und zog sie sanft an sich. Dankbar ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken.
»Vielleicht bin ja doch ich an allem schuld. Die Frau, die das Unglück bringt. Ich glaube manchmal tatsächlich, dass etwas mit mir nicht stimmt. So viele Menschen um mich herum sind tot – und ich konnte ihnen nicht helfen.«
In ihre Augen traten Tränen.
»Es ist, als wollte mich Gott für etwas strafen. Ich weiß nur nicht, für was.«
Er drehte sie zu sich um, blickte ihr in die Augen und hielt sie an den Schultern fest.
»Du hörst mir jetzt mal genau zu. Du trägst keine Schuld an all diesen Dingen. Helene hat ihr Schicksal selbst herausgefordert, und auch dafür, dass Milli krank geworden ist, konntest du nichts. Es ist ein Geschenk Gottes, dass du noch am Leben bist, hörst du! Er will dich nicht strafen oder dir weh tun. Du bist der liebste und selbstloseste Mensch, der mir jemals im Leben begegnet ist. Ich danke dem Herrgott jeden Tag dafür, dass er uns zueinandergeführt hat, denn
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