Das Pestkind: Roman (German Edition)
Irgendwann schüttelte der Junge den Kopf.
»Aber du hast doch Schmerzen. Was ist denn geschehen? Irgendetwas muss vorgefallen sein.«
Anderl antwortete wieder nicht. Der Abt war schon daran gewöhnt. In der Regel schwiegen sie sich die halbe Stunde, die er hier war, nur an. Einige Minuten blieb alles wie gewohnt, doch dann begann Anderl auf einmal zu sprechen. Verwundert sah der Mönch ihn an.
»Er ist es gewesen.«
»Wer ist was gewesen?«
Anderl sah den Mönch direkt an.
»Er kommt immer zu mir und fasst mich an.« Tränen traten in Anderls Augen. »Er stöhnt und keucht dabei und tut mir weh. Ich will das nicht mehr, er soll aufhören.«
Pater Franz lief es eiskalt den Rücken hinunter. Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Jungen aus, doch dieser wich erneut zurück.
»Wer soll damit aufhören?«, fragte er leise.
»Er hat mir versprochen, Marianne würde wiederkommen, wenn ich nett zu ihm bin. Doch sie kommt nicht. Ich weiß es. Ihr habt es doch gesagt. Sie hat mich alleingelassen.«
Pater Franz atmete tief durch. Er ahnte bereits, von wem hier die Rede war. Schon seit längerem ging in der Stadt das Gerücht um, dass August Stanzinger Knaben und jungen Männern gegenüber nicht abgeneigt war. Doch bisher hatte man ihm nie etwas nachweisen können. Und auch jetzt würde es schwer werden, denn immerhin stand sein Wort gegen das eines Eingesperrten, der bald hingerichtet würde.
»Aber« – der Junge sah den Mönch hoffnungsvoll an – »vielleicht kommt sie ja doch wieder. Sie hat noch nie ein Versprechen gebrochen. Ich vermisse sie so sehr.« Er zeigte auf seine Strohtiere. »Die wollte ich ihr schenken.«
Pater Franz wusste nicht, was er antworten sollte. Er war zutiefst bestürzt. August Stanzinger nutzte den Jungen schamlos aus und zwang ihn mit Lügen, ihm gefügig zu sein.
Er versuchte erneut, nach Anderls Hand zu greifen. Diesmal ließ der Junge es zu.
»Ich vermisse sie auch. Aber sie wird nicht wiederkommen. Er hat dich belogen, die ganze Zeit. Ich werde mich darum kümmern, das verspreche ich dir. Er wird dir nicht mehr weh tun. Und vielleicht schaffe ich es auch bald, dich hier herauszuholen. Es gibt noch Hoffnung.«
Anderls Ausdruck in den Augen veränderte sich wieder, sein Blick wurde abwesend.
»Früher haben wir uns immer vor der Mutter versteckt, wenn sie mal wieder böse war. Hinten im Stall, in der Luke. Da hat sie uns niemals gefunden.«
Die Tür zur Zelle wurde geöffnet.
»Die Zeit ist um, Mönch«, brummelte Karl. Auffordernd sah er den Abt an.
Pater Franz erhob sich.
»Ich verspreche dir: Gleich heute werde ich mich darum kümmern. Er wird dir nicht mehr weh tun.«
Ungeduldig wiederholte Karl:
»Ich habe gesagt, Eure Zeit ist um.«
Traurig folgte der Mönch dem Wärter nach draußen und zuckte zusammen, als die Tür laut hinter ihm ins Schloss fiel.
Und während er Karl durch den Flur folgte, dachte er über die letzten Worte des Jungen nach. Versteckt hatten sich die beiden, an einem Ort, der sicher war. Doch das konnte Anderl heute nicht mehr. Wie ein Tier saß er in der Falle und wartete jeden Tag auf seinen Peiniger – und es gab keine Luke, in die er fliehen konnte.
Pater Franz trat auf die Straße. Der Graupelschauer hatte sich verzogen, blauer Himmel lugte zwischen zerrissenen Wolkenfetzen hervor, und ein böiger Wind wehte seinen Umhang in die Höhe. Aufgebracht ballte er seine Fäuste. Sofort musste er mit dem Büttel reden, denn solch eine Sünde konnte er nicht hinnehmen. Gerüchte waren das eine, aber das hier waren echte Anschuldigungen. Einen hilflosen Burschen dazu zu zwingen, ihm gefügig zu sein, kam einer Todsünde gleich.
Eilig lief er über den Salzstadel, auf dem es heute ungewöhnlich ruhig war, denn wegen des schlechten Wetters waren weniger Fuhrwerke unterwegs.
Auf dem Inneren Markt angekommen, stellte Pater Franz fest, dass das Büro des Büttels bereits verschlossen war, also schlug er den Weg zu dessen Wohnung ein.
Unterwegs kreuzte eine Trauergesellschaft seinen Weg. Schweigend folgte die Gruppe einem Sarg, der auf einem mit Tüchern geschmückten Karren ruhte, der von zwei großen Pferden gezogen wurde. Pater Franz blieb stehen, bekreuzigte sich und wartete, bis die Menschen an ihm vorübergezogen waren, danach eilte er weiter. Erneut schoben sich schwarze Wolken über die Dächer der Häuser und ließen die Straße im Dämmerlicht versinken. Als der Mönch den Hausflur des Stadthauses betrat, in dem der Büttel wohnte,
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