Das Pestkind: Roman (German Edition)
zu einer schmiedeeisernen Tür, die in die Mauer eingelassen war, und suchte hektisch den richtigen Schlüssel. Als er ihn gefunden hatte, öffnete er das quietschende Tor.
»So, von jetzt an müsst Ihr allein klarkommen.« Er deutete nach draußen.
Albert trat neben den Jungen und sah ihn gerührt an. Er konnte noch immer nicht fassen, dass der Knabe ihnen zur Flucht verhalf. Als er sich bedanken wollte, fiel ihm auf, dass er nicht einmal den Namen seines Retters kannte.
»Sag mal, Junge, wie heißt du eigentlich.«
»Johannes.« Der Junge blickte ungeduldig über den Hof. »Aber Ihr müsst jetzt wirklich gehen.«
Albert nickte und trat neben Claude, der bereits durch das Tor getreten war.
»Das werde ich dir niemals vergessen, Johannes.«
»Wie gesagt, eine Hand wäscht die andere.«
»Ja, so ist es«, murmelte Albert, während Johannes wieder in der Dunkelheit des Hofes verschwand.
»Ich denke, wir sollten uns beeilen, fortzukommen«, flüsterte Claude und klopfte ihm auf die Schulter. »Und warum hier eine Hand die andere wäscht, kannst du mir gewiss unterwegs erklären.«
Albert drehte sich um und legte dem Franzosen freudig den Arm über die Schultern.
»Das mache ich. Ich sage dir, mein Freund, Gott ist näher, als wir denken.«
Gemeinsam gingen sie die dunkle Gasse hinunter, und während Albert zu erzählen begann, löste sich seine Anspannung, und eine wunderbare Freude breitete sich in ihm aus, denn bald würde er Marianne wiedersehen.
*
Marianne verließ ohne großen Abschied den Feldherrenhof. Sie hatte sich, während Anna mit Carl sprach, umgezogen und trug jetzt ein schlichtes graues Wollkleid. Ihr Haar hatte sie geflochten, hochgesteckt und unter eine dicke, ebenfalls graue Mütze geschoben. Dazu trug sie einen wollenen dunkelblauen Umhang mit Kapuze. Jetzt ging es nicht darum, besonders hübsch zu sein. Sie sollte wie eine normale Bürgerliche, bei der es nichts zu holen gab, aussehen.
Ihre beiden Begleiter kannte sie nur vom Sehen. Caspar Johannsen und Justus Steiner überragten Marianne um gut einen Kopf und waren breitschultrig und kräftig. Sie trugen ebenfalls schlichte Kleidung, hatten aber ihre Waffen bei sich. Schweigend durchquerten die drei den bunten Bereich des Trosses. Marianne blickte sich wehmütig um. Sie war schon lange nicht mehr hier draußen zwischen den bunten Karren und einfachen Zelten, den Marketendern, Soldaten und Huren gewesen.
Viele Zelte standen im Matsch, und Kinder mit Rotznasen und blassen Gesichtern starrten sie an. Nur noch wenig war übrig von dem leichten Leben, den Festen und langen Abenden am Feuer. Mit dem Sommer war die Leichtigkeit verschwunden, die Marianne in diesem Bereich des Lagers immer so geschätzt hatte. Wehmütig dachte sie beim Anblick des alten Peter, an dem sie vorübergingen, an Milli. Der Marketender grüßte winkend.
»Guten Morgen, Marianne, lange nicht gesehen.« Marianne winkte lächelnd zurück und blinzelte die Tränen weg, die sich in ihre Augen schlichen.
Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, warum sie den Feldherrenhof nach Millis Tod nicht mehr verlassen hatte. Sie konnte den Anblick des normalen Trosslebens nicht mehr ertragen. Es tat zu weh, an Milli und die glücklichen Tage erinnert zu werden.
Am Ende des Lagers blieb Caspar Johannsen stehen und sah Marianne mürrisch an. Der blonde, aus Lübeck stammende Mann war nicht sonderlich begeistert darüber, dass er Kindermädchen für eine junge Frau spielen musste. Seit einiger Zeit hatte er sich Hoffnungen auf den Posten des Oberfeldwebels gemacht, doch diese waren durch das Kriegsende endgültig zerschlagen worden, was seine Laune nicht gerade hob. Wann irgendwo der nächste Krieg ausbrechen würde, in dem man sich beweisen konnte, wusste er nicht. Auch er hatte geflucht, als er vom Westfälischen Frieden erfahren hatte, denn ein Leben ohne Krieg konnte er sich nicht vorstellen. Er war eines der vielen Kinder gewesen, die ihre Heimat und ihre Familien verloren hatten und im Tross ums Überleben kämpften, und er hatte sich vom Wasserträger zum Feldwebel hochgearbeitet. Was nun aus ihm werden sollte, wusste er nicht.
»Wohin willst du denn jetzt?«, brummelte er. Marianne wich ein Stück zurück. Doch nicht sie, sondern Justus Steiner antwortete ihm. Justus war ein braunhaariger Bursche mit warmen Augen und einem leicht bräunlichen Teint. Er hatte immer etwas leicht Spitzbübisches im Blick und stammte aus Köln. Ihm kam die Sache mit Marianne gelegen. Er
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