Das Pestkind: Roman (German Edition)
Knies hatten sie gestern nur notdürftig ausgewaschen und mit einem Stück Stoff verbunden.
»Ich helfe dir, mein Freund.« Pater Jakobus griff dem Mönch unter die Arme und half ihm, sich aufzusetzen.
Doch als er den Verband lösen wollte, hielt ihn Sebastian zurück.
»Lass es. Ich bin dir nur eine Last, zieh allein weiter, es ist besser so.«
Jakobus sah seinen Mitbruder ernst an. Sebastian war blass, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn, gewiss hatte er Fieber.
»Nirgendwo werde ich ohne dich hingehen. Ich drehe doch nicht um und hole dich von der Straße, um dich in dieser Scheune sterben zu lassen. Entweder wir gehen beide nach Rosenheim oder keiner. Pater Franz wird sich um uns kümmern. Mit Gottes Hilfe werden wir den Weg schon schaffen.«
Sebastian versuchte zu lächeln, verzog dann aber das Gesicht, als sein Freund den Stoffverband löste.
Missmutig besah sich Jakobus die Wunde.
Sie war offen und nässte, und gelber Eiter hatte sich an den dicken roten Rändern um die Einschussstelle gebildet. Damit es gut verheilen konnte, musste die Kugel herausgeholt werden, dachte Jakobus.
»Wenn es so aussieht, wie es sich anfühlt, dann deute ich deinen Gesichtsausdruck richtig«, sagte Sebastian.
»Ich werde die Wunde noch einmal auswaschen.« Jakobus griff nach dem Holzeimer, den er gestern in der Hütte gefunden hatte, und ging entschlossen nach draußen.
Der Nebel hatte sich aufgelöst, die Rehe waren fort, und erneut überkamen ihn Zweifel, ob sie es wirklich bis Rosenheim schaffen würden.
*
Marianne überquerte den menschenleeren Marktplatz, auf dem große Pfützen vom Unwetter der letzten Nacht zeugten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch der Himmel war bereits hell und klar, und nur das sanfte Plätschern des Nepomuk-Brunnens und das Zwitschern der Vögel durchbrachen die Stille des Morgens.
Ihre Nacht war kurz gewesen, denn das Gespräch der beiden Männer hatte sie noch lange beschäftigt. Es war unrecht, was sie planten, obwohl es ihr eigentlich recht sein konnte, wenn die Frau, die sie all die Zeit über gegängelt hatte, endlich fort war. Doch sie verspotteten auch Anderl und wollten sich sein Erbe erschleichen. Woher nahmen sie das Recht, über andere zu urteilen? Anderl würde Hilfe brauchen, wenn er die Brauerei führte, aber gemeinsam würden sie es schon schaffen.
Ihr Stiefbruder war kindlich, naiv und unreif, und ob sich das jemals ändern würde, wusste niemand. Hedwig Thaler mochte ihren Sohn hassen, aber er liebte seine Mutter, obwohl sie ihm so oft unrecht tat. Für ihn würde mit ihrem Tod eine Welt zusammenbrechen, also mussten die beiden Männer aufgehalten werden. Pater Franz würde bestimmt wissen, was zu tun war.
Kurz nachdem sie das Münchener Tor hinter sich gelassen hatte, ging die Sonne auf und tauchte die Spitzen der Alpenkette in goldenes Licht. Marianne blieb stehen und atmete die nach Blumen und Erde duftende Luft tief ein. Hier draußen gab es keine Mauern, Gassen und Laubengänge, die die Sicht verbauten.
Wie immer, wenn sie die Stadt verließ, wurde es ihr leichter ums Herz. Eine fröhliche Melodie summend, schlug sie den Weg zum Kapuzinerkloster ein, das unweit der Stadt direkt neben dem Friedhof lag.
Zu dieser frühen Stunde war das Haupttor des Klosters noch geschlossen, und die meisten Mönche waren bei der Morgenandacht. Marianne ging an der Mauer entlang zum Hintereingang der Anlage, wo sie von gackernden Hühnern in Empfang genommen wurde. Von der Hühnerschar verfolgt, schob sie die Hintertür auf und trat in die Küche. Pater Johannes stand an dem schweren, gusseisernen Ofen, der mit seinen wuchtigen Ausmaßen die Mitte des Raumes ausfüllte, und rührte in einem großen Topf. Der Geruch von Haferbrei hing in der Luft und erinnerte Marianne daran, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte.
»Guten Morgen, Johannes.« Sofort überzog ein Lächeln das runzelige Gesicht des alten Mönchs.
»Guten Morgen, Marianne. Was treibt dich denn zu so früher Stunde zu uns heraus?«
Marianne mochte den alten Mönch, der, solange sie denken konnte, in dieser Küche stand. Sein Haar war inzwischen grau geworden, er humpelte und schimpfte häufig über Schmerzen in der Hüfte, obwohl man ja nicht schimpfen sollte, wie er immer zu sagen pflegte. Aber wenn sie ihn an so manchen Tagen sehr plagten, dann musste er schimpfen, auch wenn Gott es nicht gern sah. Er war ein ganzes Stück größer als Marianne und hatte einen ausladenden Bauchumfang, der dem
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