Das Pestkind: Roman (German Edition)
gar nichts mehr.«
Claude sah Albert fragend an. »Warum tun wir das? Warum verlassen wir unsere Familien, um in einem fremden Land für etwas zu kämpfen, was nicht unser ist?«
Während Albert nach einer Antwort suchte, sah er in Gedanken das kleine Schloss in Skoloster, das funkelnde Wasser des Mälarensees, die unendlichen Wälder und Wiesen vor sich. Auch er vermisste seine Heimat, doch im Gegensatz zu Claude hatte er wenigstens einen Teil seiner Familie bei sich. Sein Bruder und dessen Frau, Anna Margarethe, lebten mit ihrer Tochter im Tross. Sogar ihre Hochzeit hatten die beiden auf dem Schlachtfeld gefeiert. Albert besaß noch keine eigene Familie und fragte sich oft, ob er seine Kinder im Tross, ohne Heimat, zwischen Schlachtfeldern, aufwachsen sehen wollte. Irgendwann würde er wahrscheinlich ein gutsituiertes Mädchen aus dem Landadel heiraten und sich anpassen, wie es die meisten taten.
»Schreibst du keine Briefe nach Hause?« Noch während Albert die Frage stellte, fiel ihm die Naivität auf, die darin lag, denn wie sollte in dieser wirren Welt ein Brief von Claude sein Ziel in der Provence erreichen. Ein Ziel, das es vielleicht gar nicht mehr gab.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie den Tross erreichten. Sie durchquerten zuerst den Teil des Lagers, in dem die Bettler und Verletzten unter freiem Himmel oder in selbstgebauten Hütten schliefen. Hier waren diejenigen, denen der Krieg nur Unglück gebracht hatte. Das Fußvolk, das, krank und ausgezehrt, jeden Tag ums nackte Überleben kämpfte.
Einer der Verletzen erhob sich, humpelte stöhnend neben ihnen her und streckte seine Hände aus. Ihm fehlten ein Bein, die linke Hand und ein Auge. Kleine Fliegen krochen in der leeren Augenhöhle herum. »Bitte, edler Herr, eine Spende, nur eine Kleinigkeit für einen Kameraden.«
Albert kannte den Mann sogar mit Namen, ignorierte ihn aber. Heinrich Wehrtheimer hatte sich vom einfachen Infanteristen zum Leutnant hochgearbeitet und hätte eine glänzende Zukunft vor sich gehabt. Doch in der Schlacht bei Zusmarshausen war er schwer verwundet worden. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch am Leben war. Aus dem Augenwinkel sah Albert, wie Heinrich das Gleichgewicht verlor und stürzte. Claude, der Heinrich ebenfalls gekannt hatte, sah Albert traurig an.
»Es wäre besser gewesen, sie hätten ihn sterben lassen. Dann wäre ihm viel Leid erspart geblieben.«
Erleichtert darüber, den Armenteil des Lagers hinter sich gelassen zu haben, erreichten die beiden wenig später die ersten Marketenderbuden und größeren Zelte der Händler und Handwerker. Eine Gruppe junger Mädchen, nicht älter als fünfzehn Jahre, kreuzte kichernd ihren Weg. Sie hatten ihre Röcke angehoben, und bei der ein oder anderen war ein Stück nacktes Bein zu erblicken. Claude sah ihnen sehnsüchtig hinterher. Albert bemerkte den Gesichtsausdruck seines Freundes und lachte laut auf.
»So ist das also. Na, dann hol dir doch eine von den Kleinen heute Nacht.«
»Nein.« Claude machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht mehr nur für eine Nacht. Ich werde diesen Herbst dreißig und brauche allmählich eine anständige Frau.«
Lachend schlug Albert ihm auf die Schulter.
»Eine Frau für einen Franzosen suchen wir also. Da muss es aber ein hübsches Mädchen sein.«
Claude reckte sein Kinn in die Höhe.
»Aber natürlich. Eine Hässliche kommt mir nicht ins Haus. Du kennst meine Vorlieben bei Frauen.«
»Soll das etwa bedeuten, ich soll dir bei der Wahl behilflich sein?« Albert blickte sich suchend um.
»Lieber nicht«, erwiderte Claude. »Wenn es um die Schönheit von Frauen geht, bist du blind wie ein Fisch.«
Leicht beleidigt verzog Albert das Gesicht.
»Wirfst du mir etwa Geschmacklosigkeit vor?«
Claude runzelte die Stirn. Er begleitete Albert bereits seit seiner Ankunft im Tross und konnte seine Frauengeschichten an einer Hand abzählen, sogar bei den Huren wurde er nur selten schwach. Und wenn doch, dann hatte er sich seine Auserwählte schön gesoffen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Vor einem großen Wagen zügelte Albert sein Pferd. Davor stand eine korpulente Frau, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah ihn vorwurfsvoll an, lächelte aber verschmitzt.
»Wo treibst du dich wieder herum, Albert Wrangel? Seit Tagen hast du dich nicht blicken lassen.«
Albert stieg von seinem Pferd und umarmte die Frau, hob sie hoch und drehte sich übermütig mit ihr im Kreis.
»Ach, Milli, wie habe ich dich vermisst. Ist
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