Das Pestkind: Roman (German Edition)
kein Zeuge ist er allemal.«
Mit diesen Worten erhob er sich.
»Ich muss in die Kapelle, es wird gleich zum Angelus-Gebet läuten.«
Marianne stand ebenfalls auf.
»Und ich gehe nach Anderl sehen. Pater Johannes wartet bestimmt schon auf mich.«
J osef Miltstetter blickte sich in der engen Dachkammer um, die er sein Zuhause nannte. Er saß auf dem Bett, das nur aus einem Strohsack und einer Decke bestand, und auf der winzigen Kommode neben der wenig einladenden Schlafstatt brannte eine Talgkerze. Im flackernden Licht konnte er die Ratten erkennen, wie sie unter den Dachbalken entlangliefen. Sein Hab und Gut lag unordentlich im Raum verstreut, ein abgetragener Mantel, zwei Hosen und ein weiteres unsauberes Hemd teilten sich den Fußboden mit einer schmutzigen Waschschüssel.
Müde rieb er sich die Augen. Was war nur aus ihm geworden? Wohin war der wohlhabende Mann verschwunden, der jeder misslichen Lage standgehalten hatte?
Er war mit ihr verschwunden. Mit der Frau, die er nie wirklich lieben gelernt hatte – obwohl er das hätte tun müssen, wie es seine Mutter an seinem Hochzeitstag zu ihm gesagt hatte. Du wirst lernen müssen, sie zu lieben, hatte sie ihn ermahnt.
Immer wieder sah er sie vor sich, mit ihrer blutigen Nase, ihrem verschwollenen Gesicht und den blonden Haaren. Sie hatte ihn zur Weißglut getrieben, wahnsinnig gemacht und am Ende sein Leben genommen, oder war dieses Leben in Armut, als Bettler und Tagelöhner, die Strafe Gottes dafür, dass er ihr das ihre geraubt hatte? Welche Strafe wurde einem Mörder gerecht? Er kannte die Antwort.
Er fuhr sich hektisch durchs Haar. Er war doch auch nur ein Mensch, vielleicht etwas hitzköpfig und impulsiv, aber kein Mörder, jedenfalls nicht der wahre Mörder seiner Frau. Sie hatte ihn gereizt, hatte gekeift und geschimpft. Irgendwann wollte er nur noch, dass sie endlich still sein würde, und jetzt war sie still, genauso wie Hedwig Thaler. Ausgelacht hatte sie ihn und vom Hof gescheucht wie einen Bettler. Doch so respektlos ging niemand mit ihm um. Er hätte mit ihr zusammengearbeitet und sie unterstützt, das taten Verwandte, sie halfen einander. Wütend sprang er auf und trat mit dem Fuß gegen die Waschschüssel. Sie ging zu Bruch, und das Wasser breitete sich über dem staubigen Boden aus. Er warf sich seinen Mantel über die Schultern, verließ den Raum und polterte die Treppe hinunter.
Auf der Straße empfing ihn nächtliche Stille, und regenfeuchte Luft hüllte ihn ein. Wolkenfetzen trieben über den Himmel, und der volle Mond tauchte alles in fahles Licht. Er atmete tief durch, versuchte, sich wieder zu beruhigen, und schloss kurz die Augen. Es war doch alles gut, bald würde er die Brauerei übernehmen und ein neues Leben beginnen – ohne die alten Schatten. Langsam setzte er sich in Bewegung, lief den Äußeren Markt hinunter und schlug den Weg zum Büttel ein.
Bei dem Gedanken an August Stanzinger musste er lächeln, und seine Wut verschwand. Mit ihm hatte er einen starken Partner gefunden, jemanden, der, wie er selbst, seine Haut retten wollte. Was würden die Leute von einem Büttel halten, der kleine Buben in sein Bett holte? Den Moment, als er den ehrwürdigen Büttel mit einem Burschen im Gras erwischt hatte, verstand er als Wink des Schicksals, denn er hatte August Stanzinger damit in der Hand. Er würde ihm helfen, die Brauerei zu bekommen, sonst wäre er die längste Zeit Büttel von Rosenheim gewesen.
Direkt neben dem Wiesentor wohnte Stanzinger in einer großen Wohnung im ersten Obergeschoss. Verstohlen blickte sich Josef um. Besonders jetzt, wo die Schweden jederzeit in die Stadt einfallen konnten, waren alle auf der Hut, und zusätzliche Wachposten patrouillierten durch die Straßen oder standen vor den Stadttoren.
Durch ein kleines Seitentor gelangte er in den Hinterhof des Hauses. Hier war es noch dunkler als auf der Straße, und der beißende Geruch des Aborts stieg ihm in die Nase. Zwei aufgescheuchte Katzen, die in den herumliegenden Abfällen nach etwas Essbarem gewühlt hatten, suchten fauchend das Weite.
Hinter der Fassade wurde ersichtlich, dass der größte Teil des Gebäudes aus Holz bestand und nur die Frontseite, wie bei vielen Häusern der Stadt, gemauert war. Eine Holztreppe führte nach oben.
August Stanzinger öffnete erst nach mehrmaligem Klopfen die Tür.
»Was wollt Ihr?«, flüsterte er und blickte nervös hinter sich.
Miltstetter grinste und schielte neugierig in die Wohnung. Er ahnte den Grund
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