Das Pestkind: Roman (German Edition)
soll dieser Aufruhr?« Fragend sah er Lydia an. »Ich denke, ich habe Eure letzten Worte nicht gehört, meine Teuerste.« Der Mönch musterte die Frau missbilligend. Lydia senkte den Kopf und nickte stumm. Erleichtert trat Marianne neben Pater Franz, und die Leute wichen zurück.
»Da bin ich ja gerade rechtzeitig gekommen«, flüsterte er, während er das Kirchentor öffnete. In der Kirche empfing sie kühle, von Weihrauch geschwängerte Luft. Durch die bunten Glasfenster fiel Sonnenlicht auf den steinernen Boden. Noch immer standen hölzerne Baugerüste an den Wänden. Die Spuren des großen Brandes, der bereits sieben Jahre zurücklag, waren hier noch am deutlichsten zu erkennen, obwohl schon viel geschehen war. Kunstvoll gezimmerte Kirchenbänke luden die Gläubigen zur Andacht ein, der Altar war prunkvoller geworden, und das Chorgewölbe, das beim Brand eingestürzt war, erstrahlte in neuem Glanz. Prachtvolle Bilder hingen an den Wänden, und Kerzenleuchter mit gläsernen Kristallen funkelten im Licht.
Marianne griff nach Anderls Hand, folgte dem Pater und versuchte, das Flüstern der Leute und ihre abfälligen Blicke zu ignorieren.
Höflichkeitshalber war die erste Reihe freigehalten worden. Dahinter saßen einige Mönche aus dem Kapuzinerkloster. Pater Johannes zwinkerte Marianne aufmunternd zu.
Vor dem Altar stand Hedwigs Sarg, mit Margeriten, Glockenblumen und Butterblumen geschmückt. Anderl hatte sie gepflückt und gestern Abend auf dem Sarg befestigt, doch die Blumen welkten bereits.
Pfarrer Heinrich betrat, gefolgt von vier Ministranten, den Altarraum, die Orgel begann zu spielen, und die Gläubigen erhoben sich. Aufmunternd drückte Marianne Anderls Hand, während sie tonlos die Lippen bewegte. Er starrte vor sich hin, wirkte teilnahmslos – weinte nicht. Die beiden standen ganz allein in der vordersten Reihe. Pater Franz hatte sich ganz bewusst zu den Mönchen gesetzt, denn nur Marianne und Anderl hatten heute das Recht, dort vorn zu sitzen.
Auf Pater Franz machte Marianne einen erstaunlich gefassten Eindruck. Was würde nun aus ihr werden? Er faltete die Hände zum Gebet. Ihre Ziehmutter war tot und Anderl allein. Wie sollte es mit der Brauerei weitergehen? Der Junge konnte sie unmöglich führen, und Marianne würde dort von keinem akzeptiert werden. Was hatte er nicht alles versucht, um den dummen Aberglauben aus den Köpfen der Leute zu vertreiben, aber all sein Zureden hatte nichts geholfen, das Misstrauen Marianne gegenüber war geblieben.
Das Knarren der Eingangstore unterbrach seine Gedanken. Laut rufend betraten Menschen die Kirche und rannten panisch durch die Reihen.
»Die Schweden, die Schweden sind da! Bringt euch in Sicherheit! Hört ihr, die Schweden, überall Schweden!«
Sofort drängten sich alle aus den Kirchenbänken und rannten erschrocken durcheinander, Kerzenständer wurden umgeworfen, ein Baugerüst im hinteren Teil der Kirche fiel laut krachend auf den Boden, und Pfarrer Heinrich verschwand mit wehendem Talar in der Sakristei, gefolgt von den Ministranten.
Der Einzige, der sich nicht bewegte, war Anderl. Er starrte teilnahmslos auf den Sarg seiner Mutter. Was um ihn herum geschah, schien er nicht wahrzunehmen.
Marianne zog ängstlich an seinem Arm.
»Anderl, komm bitte, steh auf! Wir müssen fort von hier! Hörst du nicht? Die Schweden sind in der Stadt. Sie werden kommen und uns töten!«
Verzweifelt sah sie ihn an. Er bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. »Wir können nicht hierbleiben, versteh das doch.« Aber sein Blick blieb teilnahmslos. Panisch schaute Marianne sich um. Die letzten Flüchtenden erreichten die Ausgänge, und auch Pater Franz war in dem Trubel verschwunden.
Laut krachend fiel das Kirchentor ins Schloss, jetzt waren sie ganz allein. Lärm drang von draußen herein, doch hier drin war es nun seltsam still.
Anderl sah Marianne an und stand auf.
»So ist es gut, Anderl«, lobte sie ihn und griff zitternd nach seiner Hand. »Wir werden nun rausgehen und uns irgendwo verstecken. Vielleicht im Stall, ganz hinten in der Luke, die keiner kennt, dort wird uns niemand finden.«
Als sie aus der Kirchenbank traten, wandte sich Marianne Richtung Ausgang, doch Anderl riss sich los, trat vor den Sarg seiner Mutter und setzte sich auf die Stufen, die zum Altar hinaufführten.
Marianne sah ihn ungläubig an. »Steh auf, wir müssen hier weg! Jeden Moment können die Schweden hereinkommen. Bitte! Anderl, so hör doch!« Sie
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