Das Pestkind: Roman (German Edition)
für die Unruhe des Stadtbüttels.
»Das könnt Ihr Euch doch denken, oder?«
August Stanzinger machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen, doch Josef war schneller und trat ein.
Der Stadtbüttel wich zurück und lief voraus, redete hektisch auf jemanden ein und schloss eine Tür. Josef betrat die vom Mond erhellte Wohnstube und bemerkte die für einen Stadtbüttel recht wohlhabende Einrichtung. Mit Stoff bezogene Stühle, ein schöner, massiver Esstisch und eine Anrichte teilten sich den Raum mit einer bequem gepolsterten Sitzgruppe. Silberne Kerzenleuchter auf den Fensterbrettern rundeten das Bild ab.
»Hübsch habt Ihr es hier.« Josef setzte sich in einen der Sessel.
»Der perfekte Platz, um kleine Buben zu verführen. Was bezahlt Ihr ihnen für ihre Dienste? Ganz umsonst wird es doch nicht sein, oder?«
August Stanzinger sah Josef wütend an.
»Ich frage Euch noch einmal: Was wollt Ihr von mir mitten in der Nacht?«
Josef beugte sich nach vorn.
»Ich dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, um noch einmal über die Brauerei zu sprechen.«
August deutete in den Flur. »Nicht so laut, der Junge könnte Euch hören.«
»Ich werde noch viel lauter werden, wenn nicht bald etwas geschieht.« Josef hatte Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren, denn sein Ziel war zum Greifen nah.
Der Büttel wich zurück.
»Wir haben doch besprochen, dass wir die Beerdigung von Hedwig Thaler abwarten müssen, danach könnt Ihr Eure Ansprüche geltend machen.«
»Und was ist mit dem Jungen? Er ist der rechtmäßige Erbe der Brauerei.«
August Stanzinger seufzte. Anderl war wirklich ein Problem. Er hatte gedacht, der Junge wäre tot, als sie den Hof verlassen hatten.
Beschwichtigend hob er die Hände.
»Der Junge ist dumm und einfältig. Da wird sich gewiss etwas regeln lassen. Wahrscheinlich könnt Ihr die Brauerei übernehmen und ihn als Hilfe beschäftigen. Er wird Euch sicher nicht im Weg stehen.«
Josef war skeptisch.
»Und was ist, wenn er uns erkannt hat. Oder sich irgendwann daran erinnert?«
August Stanzinger sank auf einen Stuhl und griff sich an die Stirn. »Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Und wenn wir …«
»Nein!«, unterbrach ihn der Stadtbüttel. »Schluss damit. Es muss einen anderen Weg geben.«
Er trat ans Fenster und blickte auf die leere Straße hinunter. »Irgendetwas, was ihn halbwegs legal aus dem Weg räumt.«
Plötzlich blitzten seine Augen auf.
»Wir könnten ihn des Mordes an seiner Mutter anklagen.«
Er sah zu der verschlossenen Schlafzimmertür hinüber.
»Und ich habe auch schon einen Zeugen, der alles gesehen hat.«
Josef folgte seinem Blick.
»Und Ihr denkt, das klappt?«
»Wieso denn nicht?«, erwiderte der Büttel. »Wenn nicht ich, wer sonst könnte so etwas machen?«
Josef Miltstetters Miene war immer noch skeptisch.
»Und der Junge wird auch dichthalten?«
Der Stadtbüttel nickte. »Er würde alles für mich tun.«
*
Marianne musterte sich nachdenklich in dem winzigen Spiegel, der über ihrem Waschtisch hing. Die Luft im Raum war zum Schneiden, und selbst das geöffnete Fenster sorgte nicht für Abkühlung. Auf ihrer Bluse zeichneten sich bereits Schweißflecken ab, und ihr Haar war im Nacken feucht. Sie atmete tief durch. Eigentlich müsste sie glücklich sein, Freudensprünge machen und jubeln, denn Hedwig war tot. In ihrer Erinnerung gab es nicht einen einzigen Moment, in dem ihre Stiefmutter nett zu ihr gewesen war, aber weshalb empfand sie trotzdem so etwas wie Trauer?
Die ganze Nacht hatte sie grübelnd Anderls Atemzügen gelauscht. Es war schön, wenn er da war. Dieser Tatsache war sie sich erst jetzt richtig bewusst geworden. Zum ersten Mal seit langem war es ihr egal, ob sie wenig Platz im Bett hatte oder es unschicklich war, denn er vertraute ihr und suchte bei ihr Trost und Nähe.
Seit Hedwigs Tod sprach Anderl nicht mehr und schlich wie ein Gespenst durch das Haus.
Vielleicht war er der Grund für ihre fehlende Freude. Ihr wurde bewusst, dass Anderl nun ganz allein auf der Welt war, denn der einzige Mensch, der sich um ihn gekümmert hatte, war tot. Auch wenn Hedwig Thaler keine fürsorgliche Mutter gewesen war, so war sie immerhin für ihn da gewesen. Und vielleicht wäre das auch heute noch so, hätte sie etwas unternommen. Doch hätte es wirklich einen Sinn gehabt, Pater Franz früher von dem belauschten Gespräch zu erzählen?
Seufzend begann sie, ihr schwarzes Haar zu bürsten. Pater Franz sagte
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