Das Pestkind: Roman (German Edition)
immer, sie sei das Ebenbild ihrer Mutter. Einer Frau, von der ihr nur die Erinnerung an eine Stimme, einen Umriss im Sonnenlicht geblieben war.
»Marianne, kommst du?«
Margits Stimme riss sie aus ihren trübsinnigen Gedanken, über die sie die Zeit vergessen hatte. Hastig band sie ihre Haare zusammen und eilte zur Tür.
Auf dem unteren Treppenabsatz stand Margit und sah sie erstaunt an.
»So willst du in die Kirche gehen?«
Marianne blickte an sich hinunter. Sie trug eines ihrer Arbeitskleider, es war nicht besonders fein und eigentlich ungeeignet für eine Beerdigung, aber es war sauber.
»Wieso? Ist doch alles gut. Wo ist Anderl?«
Margit zuckte mit den Schultern. Sie waren spät dran, und wenn Marianne sich jetzt noch ordentlich die Haare flechten würde, dann würden sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen.
»Er ist auf dem Hof und wartet auf uns. Möchtest du nicht doch lieber eine Haube aufsetzen?« Sie zeigte auf Mariannes Haar.
Doch Marianne verschwand in der Küche.
Gleißendes Sonnenlicht lag über dem Marktplatz, und selbst im Schatten des Laubenganges war es stickig. Marianne blickte sich zweifelnd um. Warum musste Hedwig ausgerechnet am Markttag beerdigt werden. Unter normalen Umständen wäre der heutige Tag für Anderl und sie schon ein Spießrutenlauf gewesen, aber durch die vielen Menschen, die neugierig ihre Hälse reckten, sie anstarrten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten, wurde alles noch schlimmer. Margit zog missbilligend die Augenbrauen hoch und trieb Marianne und Anderl zur Eile an.
»Jetzt macht schon, bestimmt beginnt die Messe gleich.«
Sie verschwand in der Menschenmenge. Marianne griff nach Anderls Hand, holte noch einmal tief Luft und zog den teilnahmslos dreinblickenden Jungen hinter sich her.
Der Platz war gut gefüllt, und Marktstände reihten sich dicht an dicht. Nur bei genauerem Hinsehen erkannte man, wie schlecht bestückt diese waren. Die Eisenwarenhändler waren wie immer zahlreich vertreten, doch nur wenige Seifenmacher und Tuchhändler waren gekommen. Vereinzelt wurden Eier und Federvieh feilgeboten, die meisten Bauern aber waren zu Hause geblieben.
Kein Musiker spielte fröhliche Weisen, keine Gaukler tanzten, dafür waren mehr Bettler zu sehen. Überall saßen sie zwischen den Ständen, zogen an Mariannes Rock oder sprachen sie an. Frauen mit eingefallenen Wangen, oft kleine Kinder an der Hand und Säuglinge im Arm, streckten ihr flehend die Hände entgegen. Männer mit fehlenden Gliedmaßen humpelten an Stöcken durch die Menge, und ab und an schnappte Marianne boshafte Bemerkungen auf. Von der Teufelsmagd, die das Unglück brachte, bis zur Hexendirne war alles dabei. Sie spürte die Blicke der Menschen im Nacken und umklammerte Anderls Hand, den sie immer wieder zur Eile antreiben musste. Sie war verschwitzt, staubig von oben bis unten, und sie hatte ihr Haarband verloren.
»Na, da sieh mal einer an, wer da in die Kirche möchte.«
Lydia Drechsler stand mit drei weiteren Frauen vor dem Eingang zum Gotteshaus und grinste Marianne boshaft an.
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir dich Teufelsweib in die Kirche lassen.«
Marianne wich zurück, doch dann schäumte Wut in ihr auf. Was bildete sich diese Person ein. Das war die Beerdigung ihrer Stiefmutter.
»Nicht du, Lydia, hast zu entscheiden, wer eine Kirche betreten darf«, erwiderte sie scharf und war selbst ein wenig überrascht über ihren forschen Ton. »Gleich findet der Trauergottesdienst von Anderls Mutter und meiner Stiefmutter statt, und ich werde mir nicht von dir verbieten lassen, daran teilzunehmen. Geh aus dem Weg!«
Sie machte einige Schritte nach vorn und zog Anderl hinter sich her.
Lydia trat nun direkt vor Marianne und sah sie böse an.
»Ich habe gesagt, du sollst verschwinden. Und nimm den dummen Jungen gleich mit.« Abfällig musterte sie Anderl. »Hedwig hat ihn immer gehasst. Gott hat sie mit einem einfältigen Kind gestraft. Es ist besser, wenn er sich fortmacht.«
Marianne schnappte nach Luft. Dass Lydia sie angriff und verurteilte, war eine Sache, aber Anderl zu verweigern, an der Beerdigung seiner eigenen Mutter teilzunehmen, war unfassbar. Eine ganze Reihe von Schaulustigen hatte sich bereits um die Frauen versammelt. Neugierig starrten sie Marianne und Anderl an, manche nickten zustimmend.
Fieberhaft suchte Marianne nach einer passenden Antwort, als plötzlich Pater Franz’ Stimme zu hören war. Erleichtert drehte sie sich um.
»Was ist denn hier los? Was
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