Das Pestkind: Roman (German Edition)
versuchte, ruhig zu bleiben, und sank vor ihm in die Hocke. »Wir müssen gehen. Sie werden uns töten, wenn sie uns hier finden.«
Anderl schüttelte den Kopf und begann plötzlich wieder zu sprechen.
»Ich kann Mutter nicht allein lassen.« Er deutete auf den Sarg. Verwundert sah Marianne ihn an.
»Aber sie ist tot, die Schweden können ihr nichts mehr tun, bestimmt werden sie den Sarg nicht einmal ansehen.«
Der Junge schüttelte erneut den Kopf, diesmal etwas heftiger.
»Nein, ich gehe nicht. Ich werde meine Mutter nicht allein lassen.«
Nervös blickte Marianne zur Tür. Nicht eine Minute dachte sie daran, fortzulaufen. Ohne Anderl würde sie diese Kirche nicht verlassen. Was sollten sie jetzt tun? Doch all ihre Überlegungen kamen zu spät. Lautstark wurde die Tür geöffnet, und vier bewaffnete Männer betraten den Raum.
Marianne wich zurück, ihr Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals, und sie begann, am ganzen Körper zu zittern. Der Junge war noch näher an den Sarg herangerückt und saß jetzt direkt unterhalb der Blumen. Anstalten, aufzustehen und wegzulaufen, machte er noch immer nicht. Die Männer kamen näher. Marianne beobachtete sie voller Furcht, aber auch mit Neugier. Sie hatte so viele Dinge von den Schweden gehört, die Dörfer überfielen und niederbrannten, Frauen schändeten, Kinder erschlugen, raubten und plünderten. Seit sie denken konnte, stellte sie sich diese Männer immer groß, bullig und blutrünstig vor, doch diese vier Männer sahen überhaupt nicht so aus.
Albert Wrangel hatte eigentlich gar nicht in die Kirche gehen wollen. Gotteshäuser zu plündern war in seinen Augen eine Sünde, aber die anderen waren vorausgestürmt. Verwundert blickte er jetzt auf die junge Frau und den Burschen, die nicht vor ihnen flohen. Friedrich grinste die anderen an. »Seht nur, was für ein Leckerbissen hier auf uns wartet.« Er ging auf Marianne zu. Verängstigt trat sie nach hinten und stieß gegen den Sarg.
»Bitte«, rief sie laut, so dass ihre Worte in der leeren Kirche widerhallten, »tut uns nichts. Der Junge – es ist seine Mutter …«
Sie verstummte. Friedrich ließ sich davon nicht aufhalten. Gier stand in seinen Augen, und lüstern musterte er Marianne von oben bis unten.
Marianne wurde es eiskalt. Er würde sie nehmen, ihr ihre Unschuld und am Ende noch ihr Leben rauben, mitten in einer Kirche, vor dem Sarg ihrer verhassten Stiefmutter.
»Er weiß es nicht besser. Seht ihn Euch doch an. Er ist einfältig und dumm. Er glaubt, er müsste sie beschützen. Bitte, tut uns nichts. Es ist seine Mutter, versteht es doch!«
Tränen der Verzweiflung rannen über ihre heißen Wangen, und sie spürte ihren Körper nicht mehr, fühlte sich davonfliegen, irgendwohin, wo dies alles nicht geschah. Vielleicht würde sie gleich aufwachen, und alles war nur ein böser Traum gewesen.
»Friedrich, warte.« Der blonde Mann legte dem dunkelhaarigen seine Hand auf den Schulter. Widerwillig blieb dieser stehen und drehte sich um.
»Was willst du, Albert?«, fragte Friedrich.
Albert sah Marianne durchdringend an. Sie beeindruckte ihn. Diese Frau war wunderschön und tapfer, ihr langes schwarzes Haar war etwas zerzaust, schimmerte aber im Sonnenlicht, das durch die Kirchenfenster hereinfiel. Es bildete einen ganz eigenen Kontrast zu ihren großen blauen Augen, die ihn voller Erwartung ansahen. Ihre Wangen waren gerötet, und ihr schäbiges Kleid war staubig, doch die Art, wie sie Haltung bewahrte, zeugte von Stolz. Diese junge Frau stand dort oben neben diesem dümmlichen Jungen und verteidigte ihn, wich nicht von seiner Seite, obwohl sie wusste, was geschehen könnte. Sie hätte den Buben seinem Schicksal überlassen können – aber sie tat es nicht.
»Wir gehen wieder, Friedrich«, sagte er. Marianne sah ihn erstaunt an. Der schwarzhaarige Mann drehte sich um, und auch die anderen blieben jetzt stehen.
»Warum denn, Albert? Du weißt, ich werde deinem Bruder alles berichten und …«
Claude, der Alberts Blick folgte, erkannte sofort, was los war. Auch er hatte die junge Frau fasziniert angesehen und hatte Respekt vor ihrer Tapferkeit, aber in Alberts Augen lag etwas anderes.
»Gar nichts wirst du dem General melden, Friedrich«, antwortete er für Albert, der immer noch fasziniert Marianne anstarrte. »Wir sind in einer Kirche, und nur weil wir Krieg haben, müssen wir nicht jeden Anstand über Bord werfen. Vor einem Altar werde ich keine Frau schänden oder töten.«
Albert nickte
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