Das Pestkind: Roman (German Edition)
bei Claudes letzten Worten bestätigend.
»Claude hat recht. Die Frau ist uns tapfer entgegengetreten. Wir stören eine Totenwache, lasst uns gehen.«
Friedrich wollte etwas erwidern, doch nach einem scharfen Blick des dunkelhaarigen Franzosen hielt er sich zurück.
Marianne atmete innerlich auf, als die Männer zurückwichen. Ihr wurde schwindelig, und die Kirche begann, sich zu drehen. Der junge blonde Mann war der Letzte, der das Gotteshaus verließ. Er ging rückwärts durch die Reihen und blickte Marianne an. Am Ende der Kirchenbänke senkte er kurz seinen Kopf, lächelte ein wenig und verließ dann die Kirche.
Mariannes zittrige Knie gaben nach, und sie sank neben Anderl auf den kalten Steinboden. Sie atmete tief durch und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Anderl sah seine Schwester nachdenklich an.
»Ich glaube, wir sollten doch zu der Luke gehen, Marianne.« Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, und begann, laut zu schluchzen.
Die Nacht verbrachten die beiden im dunklen Keller des Gotteshauses. An ein Verlassen der Kirche wäre nicht zu denken gewesen. Marianne kannte den Zugang zum Keller. Eine winzige, unscheinbare Holztür, die in einer Nische neben der Sakristei lag, verbarg die steile Holztreppe, die in die finstere und wenig einladende Gerümpelkammer führte, in der Ratten und Ungeziefer hausten.
Hinter einem halbverfallenen Beichtstuhl, aus dem sie die zerschlissenen Vorhänge herausgerissen hatten, um sie als Decken zu benutzen, lagen sie eng beisammen.
Anderls Wärme und Nähe taten ihr gut. Der Junge atmete ruhig und war eingeschlafen, während sie ängstlich den Geräuschen lauschte, die von weit her zu kommen schienen. Früher hatte sie sich oft mit ihrer Mutter und Alma in dem engen Verschlag hinten im Stall versteckt und dem Poltern und Rufen, dem Kreischen und Schreien gelauscht. Sie hatte häufig geweint und war traurig wegen der Angst der Erwachsenen, die sie nicht verstand. Einmal hatte es sogar gebrannt. An diesem Tag waren alle Hühner erschlagen, gerupft und unsagbar zugerichtet auf dem Hof gelegen. Seltsam, welche Erinnerungen man aus frühester Kindheit bei sich behielt, dachte Marianne. An das Gesicht ihrer Mutter oder die Stimme ihres Vaters konnte sie sich kaum noch erinnern, aber den Anblick der toten Hühner hatte sie bis heute nicht vergessen.
Später, bei Hedwig, hatten sie sich nur noch ab und an verbergen müssen. Eigentlich hatten sie sich immer nur vor Hedwig versteckt. Sie hatte Anderl dann oft mit Geschichten die Zeit vertrieben. Mit Märchen von Liebe, Rittern und Burgfräulein, die die Minnesänger auf dem Markt erzählt hatten. Sie mochte Minnesänger, und auch Zigeunern konnte sie etwas abgewinnen. Wenn sie am Markttag aufspielten und die fremdartigen Frauen auf ihre ganz eigene Art tanzten, dann klatschte Marianne fasziniert den Takt der ungewohnten Musik.
Jetzt fehlte ihr die Kraft, um Anderl eine Geschichte zu erzählen. Immer wieder sah sie den blonden Schweden vor sich, der sie so seltsam angeschaut und ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte. So war sie noch nie von jemandem angesehen worden, und auf einmal erschauderte sie, und ihr wurde ganz warm.
Anderl bewegte sich im Schlaf, murmelte etwas und kuschelte sich noch mehr in ihren Arm. Seufzend strich sie ihm über den Rücken und schloss die Augen, versuchte, das seltsame Gefühl fortzuschieben, und begann, leise ein Kinderlied zu summen, das Alma ihr damals immer vorgesungen hatte.
*
Am Abend nach dem Schwedenüberfall verwandelte Regen die Straßen in eine rot verfärbte Schlammwüste.
Pater Franz lief über den Inneren Markt und blickte sich um. Auf großen Karren wurden die Überreste der Marktstände fortgebracht, und einige Frauen beschäftigten sich damit, Scherben aufzukehren und tote Hühner einzusammeln. Es war seltsam still.
Er war auf dem Rückweg vom Friedhof, wo er gemeinsam mit Pfarrer Heinrich Gebete für die vielen Toten gesprochen und den Angehörigen Trost gespendet hatte.
Eigentlich war er unendlich erschöpft und müde und hätte sich am liebsten in die Einsamkeit seiner Zelle zurückgezogen, damit er die schrecklichen Eindrücke, die vielen Trauernden und Toten verarbeiten konnte.
Er erreichte das Stockhammer Bräu und blieb davor stehen. Auch hier zeigte sich ein Bild der Zerstörung. Die Fenster waren eingeworfen, und die Gaststube war verwüstet. Heute Morgen war alles verlassen und ruhig dagelegen, und von Marianne oder Anderl war weit und
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