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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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alles andere war kurz und klein geschlagen worden. Um sie herum lagen unzählige Scherben in großen Pfützen, ein unbekannter, toter Mann lag hinter dem Ausschank, und der Geruch von Bier und Wein war allgegenwärtig. Die Tür stand weit offen, kühle Luft, Stimmen und das Rattern von Rädern drangen von draußen herein. Ab und an blieb jemand vor der Tür stehen und sah sich neugierig um. Marianne bemerkte es nicht. Sie wollte nicht nach draußen gehen, wollte den Anblick, der sich ihr vor der Kirche geboten hatte, vergessen, doch sie konnte es nicht. Sie war wie gelähmt. Überall lagen Leichen, Geschändete, aufgeschlitzte Mütter mit toten Kindern in den Armen. Die Frauen, die sie noch vor wenigen Stunden angebettelt hatten, lagen nun im Schlamm und starrten sie aus leblosen Augen vorwurfsvoll an. Ermordete Bauern, die sie kannte, bei denen sie noch vor kurzem Gemüse gekauft hatte, lagen zwischen den Trümmern ihrer Stände, die Fenster vieler Häuser waren eingeschlagen, und Holzrauch, der vom Äußeren Markt herüberzog, hing in der Luft.
    Hand in Hand waren Anderl und sie nebeneinander hergelaufen und hatten nichts und niemanden wahrgenommen, kein Jammern oder Stöhnen, keine Hand, die sich ihnen, um Hilfe flehend, entgegengestreckt hatte. Den Blick stur nach vorn gerichtet, waren sie nach Hause gelaufen, und Anderl war ohne ein Wort in seiner Dachkammer verschwunden.
    Marianne war angezogen in ihr Bett gekrochen, hatte sich in ihre Decke gewickelt und an die Wand gestarrt. Wann genau sie heruntergekommen war und wie lange sie jetzt schon hier saß, wusste sie nicht mehr. Pater Franz war irgendwann hier gewesen, so glaubte sie jedenfalls. Alles verschwamm vor ihren Augen. Die Schweden hatten ihr das Leben gelassen, aber so vielen anderen hatten sie es genommen. Wie hatten sie nur glauben können, Rosenheim könnte verschont bleiben.
    Plötzlich sah sie sich mit Alma und ihrer Mutter in dem engen Verschlag sitzen, hörte das laute Kreischen von Menschen und das Prasseln des Feuers und spürte die zitternde Hand ihrer Mutter. Fröstelnd rieb sie sich über ihre Arme und blickte sich um. Niemals würden dieser Krieg, die Grausamkeit und die Verzweiflung aufhören. Ihr ganzes Leben lang würden diese Bilder sie verfolgen. Doch plötzlich kamen ihr Almas Worte in den Sinn:
Jammern hilft uns auch nicht weiter,
hatte sie immer gesagt. Marianne holte tief Luft, schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stand auf. Alma hatte recht. Niemanden war damit geholfen, wenn sie jetzt in Selbstmitleid zerfloss.
    Sie war noch am Leben. Die Männer in der Kirche waren wieder gegangen und hatten ihr nichts getan. Erneut sah sie den jungen blonden Mann vor sich, und ein seltsames Kribbeln überkam sie. Wie er sie angesehen hatte, anders als alle anderen zuvor. Lautes Klirren auf der Straße ließ sie erschrocken zur Tür blicken, aber es folgte nur derbes Fluchen.
    »Kannst du nicht aufpassen, du dummer Bengel. Sieh nur, was du angerichtet hast«, drang die Stimme der alten Meyerin an ihr Ohr.
    Erleichtert atmete sie auf, ging in den hinteren Flur und öffnete die Küchentür. In der Küche war niemand gewesen, und der Raum sah seltsam unberührt und friedlich aus. Auf dem Tisch lagen Kohlköpfe und Karotten, der Topf mit dem Haferbrei stand wie immer an seinem Platz in der Ecke, Federn tanzten über den Fußboden, der Ofen war kalt, und im Spülstein stapelten sich die Teller. Marianne genoss für einen Moment die Illusion der Normalität, griff dann zu Besen und Kehrblech und begab sich zurück in die Gaststube.
    Sie kehrte die Scherben zusammen und trug alles andere in eine Ecke neben der Eingangstür. Vor dem Toten blieb sie ratlos stehen. Er lag auf dem Bauch, sein Schädel war eingeschlagen, und ein Teil seines Gehirns war auf dem Boden verteilt. Sie hätte sich ekeln und fragen müssen, wer der arme Kerl war, der hier sein Leben gelassen hatte. Doch sie konnte sich nur Gedanken darüber machen, wie sie den schweren Körper fortschaffen sollte.
    »Grüß Gott, Marianne.«
    Erschrocken drehte sie sich um. Margit stand direkt hinter ihr. Sie hatte sie nicht kommen hören.
    Erleichtert sah Marianne das Mädchen an.
    »Geht es dir gut?«, fragte Margit. Marianne nickte schweigend. Im Moment wollte sie sich nur damit beschäftigen, aufzuräumen und den Mann fortzuschaffen.
    »Soll ich dir helfen?« Margit deutete auf die Leiche.
    »Das wäre nett«, antwortete Marianne leise. Die beiden begannen, an den Beinen des Mannes

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