Das Pestkind: Roman (German Edition)
nächsten Tag begleiteten sie mich, obwohl sie eigentlich noch zu jung waren, aber hätte ich sie nicht mitgenommen, wären sie am Ende allein losgezogen. Und das wäre nicht gut gewesen. Westfalen war damals kein Pflaster, in dem zwei halbe Kinder lange überleben würden.« Er seufzte. »Ich habe mich ein wenig ihrer angenommen. Den einen habe ich sogar als Knappen bei einem der Offiziere untergebracht, für den anderen, den kleinen Tony, lief es nicht so gut. Er war zarter als sein Bruder, deshalb wollte ihn niemand haben. Irgendwann wurde er dann Wasserträger für einen der Söldner. Sie kamen noch oft zu mir. Es war seltsam, ich fühlte mich für sie verantwortlich, obwohl sie ihre Aufgaben im Tross gefunden hatten. Wisst ihr, ich hatte niemals Kinder.« Er nahm einen weiteren Schluck Bier. »Aber das ist eine andere Geschichte, und die wollt ihr bestimmt nicht hören. Jedenfalls sind die beiden Burschen drei Jahre später in der Schlacht bei Lutter am Barenberg gefallen. Bei dem einen habe ich gesehen, wie ihn das Schwert eines Landsknechts durchbohrt hat. Diesen Anblick werde ich niemals vergessen. Den anderen habe ich später auf einem Karren liegen sehen, mit einem großen Loch im Schädel.«
Marianne wurde blass. Albert sah seinen Freund missbilligend an.
»Musst du immer solche Schauergeschichten erzählen. Du machst den Damen Angst«, rügte er ihn.
Erst jetzt bemerkte Marianne Albert. Sie hatte so gespannt an den Lippen des alten Mannes gehangen, dass sie alles rundherum vergessen hatte.
»Aber wenn es doch die Wahrheit ist.« Otto verzog das Gesicht.
»Die meisten hier wollen den Krieg. Kaum einer kennt es anders. Wo sollen sie hingehen, wenn er vorüber ist? Der Wurm ist ihr Zuhause geworden, ein anderes kennen sie nicht. Gibt es den Wurm nicht mehr, gibt es sie nicht mehr.«
»Ach, Otto«, mischte sie die alte Milli in das Gespräch ein, »du mit deinen Geschichten und deiner Schwarzmalerei. Es geht immer irgendwie weiter, und die Leute kommen schon irgendwo unter. Ich finde es gut, wie Albert denkt. Langsam bin selbst ich es müde, umherzuziehen. Jeden Tag wird es schwerer, das Notwendigste zu besorgen, und die Knochen tun mir weh. Ich habe so viel Leid gesehen, dass es für vier Leben reicht. Ich würde gern nach Hause gehen.«
Marianne seufzte. Ja, nach Hause gehen würde sie auch gern. Aber sie hatte kein Zuhause mehr, denn das bisschen, was sie einmal Zuhause genannt hatte, war ihr jetzt auch noch genommen worden. Wenn sie es genau betrachtete, war sie heimatlos. Erst jetzt wurde sie sich dieser Tatsache bewusst. Sie war wieder die Waise von einst. Plötzlich kam sie sich unendlich verletzbar vor und vermisste Anderl. Was hätte sie nur dafür gegeben, ihn jetzt bei sich zu haben.
Albert legte seine Hand auf die von Marianne und riss sie aus ihren Gedanken.
»Du bist ja ganz blass, meine Liebe.«
Marianne nickte wortlos. Auch Milli wurde auf sie aufmerksam.
»Bist wirklich etwas käsig, Mädchen.«
Marianne versuchte zu lächeln und antwortete, ohne jemanden anzublicken:
»Nein, nein. Es geht schon. Ich bekomme nur etwas schlecht Luft.« Sie fasste sich an den Bauch.
Milli lachte laut auf. »Du bist kein Korsett gewohnt.«
Sie musterte Mariannes Bauchumfang genauer. »Helene hat dich aber auch arg eingeschnürt, deine Taille war doch vorher schon ein Hauch von nichts.«
Otto zog eine Flasche Branntwein aus seiner Jackentasche und hielt sie Marianne hin.
»Trink mal einen ordentlichen Schluck, das hat schon ein Mal geholfen, und dann kommt auch die Luft wieder.«
Milli griff vor Marianne nach der Flasche und roch daran.
»Das kannst du ihr doch nicht geben, Otto. Das scharfe Zeug.« Empört gab sie dem alten Soldaten die Flasche zurück.
»Ich besorge dir jetzt ein Bier und ein Stück Brot.«
Die Marketenderin verschwand hinter ihrem Zelt.
Albert schaute schmunzelnd von Marianne zu Otto, der sich einen großzügigen Schluck Branntwein aus der Pulle genehmigte.
»Trink aber nicht die ganze Flasche auf einmal aus, mein Freund.« Er hob mahnend den Zeigefinger.
Danach wandte er sich wieder an Marianne.
»Bist du müde? Soll ich dich zu Helene bringen?«
Marianne schüttelte den Kopf, obwohl sie müde war, wollte sie nicht zurück. Hier war es schön und gemütlich. Die vielen Leute, die Musik und das Feuer gefielen ihr. So einen wunderbaren Abend voller neuer Eindrücke hatte sie noch nie erlebt, und auch, wenn sie es sich jetzt noch nicht eingestehen wollte, sie genoss
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