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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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prachtvollen Spiegel hatte sie noch nie gesehen. Er war fast so groß wie sie selbst, und der mit Blättern verzierte Rahmen schien aus purem Gold zu sein. Unsicher blickte sie hinein.
    Noch nie hatte sich Marianne so gesehen. Langsam drehte sie sich im Kreis, trat näher, musterte ihr Gesicht und blickte sich selbst in die Augen. Vorsichtig betastete sie das samtene Band in ihrem Haar und fuhr sich über die sanften Locken.
    Sie erkannte sich nicht wieder. Wo war das blasse und müde Mädchen, das sie noch vor kurzem aus dem winzigen Spiegel in der Dachkammer angesehen hatte? Es war verschwunden, jedenfalls im Spiegel war es fort.
    *
    Später am Abend saß Marianne in einem der großen Zelte und drehte nervös ihre Serviette in den Händen hin und her. Die Tische standen in einem großen Kreis und waren mit edelstem Porzellan und feinstem Silberbesteck eingedeckt worden. Solches Besteck kannte Marianne nicht. Es glänzte im Licht der Kerzen, die in prachtvollen Kerzenhaltern steckten und den Raum in warmes Licht tauchten. Auch hier hingen Bilder und Teppiche an den Wänden, und sogar eine Orgel, die Carl Gustav Wrangel bei dem dänischen Orgelbauer Peter Karstens in Viborg bestellt hatte, stand in einer Ecke. Ein Mann spielte darauf eine hübsche Melodie.
    Diener und Mägde trugen Platten und Schüsseln auf, und es duftete verführerisch. Um den Tisch saßen die Generäle und Offiziere mit ihren Damen und unterhielten sich. Am oberen Ende der Tafel saßen General Wrangel und seine Frau. Anna Margarethe war blass und wirkte müde und abgespannt, was die dunkelblaue Farbe ihres Kleides, das an den Ärmeln mit Silberfäden durchwirkt war, noch unterstrich. Carl Gustav Wrangel selbst sah wie ein geschmückter Pfau aus. Er trug einen breitkrempigen lila Hut, der mit bunten Federn verziert war, dazu ein passendes Wams aus Seide. Goldene und silberne Ringe zierten seine Finger.
    Albert saß neben seinem Bruder, warf ihr ab und an Blicke zu und winkte sogar.
    »Er sieht die ganze Zeit zu uns herüber«, sagte Helene, die neben ihr saß.
    Marianne zuckte mit den Schultern und versuchte, teilnahmslos zu wirken, was ihr aber nicht gelang.
    »Ist mir egal.«
    »Das glaube ich dir nicht. Ich sehe doch, wie du ihn anschaust. Er sieht aber auch zu gut aus. Jedes Mädchen im Lager würde Freudensprünge machen, wenn er sie zur Frau nehmen würde, und du willst ihn nicht haben.« Helene bekam einen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck.
    In dieser Hinsicht musste Marianne Helene recht geben, denn Albert war mit seinen grünen Augen, dem blonden Haar und den winzigen Grübchen an den Mundwinkeln, wenn er lachte, durchaus gutaussehend.
    Doch er hatte sie, ohne zu fragen, aus ihrer Heimat mitgenommen, weil er es so haben wollte. Was war das für ein Mensch, der so etwas tat?
    Nein, sie würde sich nicht von Äußerlichkeiten blenden lassen. Er war ein Schwede, und auch wenn er gut aussah, war er doch nur wie ein Wolf im Schafspelz, der Böses im Sinn hatte.
    »Hast du keinen Hunger?«, fragte Helene und deutete auf Mariannes leeren Teller. »Der Hasenbraten schmeckt köstlich.« Sie griff nach ihrem Becher und prostete elegant einem Herrn gegenüber zu, der ihr wohlwollende Blicke zuwarf.
    Mariannes Magen war wie zugeschnürt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Frühstück bei Milli nichts mehr gegessen hatte. So etwas Köstliches wie Hasenbraten war bei Hedwig auch in der Gaststube nicht serviert worden, und wenn es bei der Thalerin Fleisch für die Dienstboten gegeben hatte, dann waren es nur Innereien und Schlachtabfälle gewesen – und diese nur vom Huhn oder Schwein.
    Der Braten duftete vorzüglich. Er war auf großen Platten angerichtet. Dazu gab es Möhrengemüse und eine braune Soße, in die die anwesenden Gäste frisch gebackenes Brot tunkten.
    Vorsichtig hob Marianne ein Stück Fleisch auf ihren Teller, übergoss es mit Soße, kostete davon und musterte dann ihre Umgebung. Sie verstand nicht viel von den Dingen, die gesprochen wurden. Irgendwo wurde von Weiterfahrt geredet, eine Frau lachte meckernd wie eine Ziege, und eine Gruppe Geiger hatte damit begonnen, den Mann an der Orgel zu begleiten. Helene unterhielt sich mit ihrer Tischnachbarin auf der anderen Seite über deren Hochzeitspläne. Immer mehr verschwamm alles vor Mariannes Augen, und das fettige Fleisch und der Wein taten ihrem Magen nicht gut. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Übelkeit zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Die Lichter, die

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