Das Pestkind: Roman (German Edition)
legen. Marianne wich erneut zurück, konnte es aber nicht verhindern, dass er sie näher zu sich heranzog.
Der Mann lachte. Ihm fehlten bereits einige Zähne, und die restlichen waren schwarz und halb verfault. Übler Geruch kam aus seinem Mund, und in seinen Augen stand Gier. Wollüstig ließ er seinen Blick über ihr Dekolleté schweifen.
»Jetzt zier dich doch nicht so, mein Mädchen. Es muss ja keiner wissen.«
Marianne sprang entrüstet auf. »Was fällt Euch ein. Wisst Ihr eigentlich, mit wem Ihr es zu tun habt? Ich bin die Verlobte von Albert Wrangel!«, zischte sie und blickte sich um. Niemand schien seinen Annäherungsversuch bemerkt zu haben. Der Alte riss die Augen auf, als er erfuhr, wen er da zu einem Techtelmechtel überreden wollte. Beschwichtigend hob er die Hände.
»Verzeiht einem Mann, der zu viel Wein getrunken hat.« Er senkte den Kopf. »Es soll nie wieder vorkommen.«
Marianne nickte kurz und wandte sich ab. Ihr Blick wanderte in die Ecke zu den anderen Männern. Albert wandte ihr den Rücken zu. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie sich als die Verlobte dieses Mannes bezeichnet hatte. Eines Mannes, mit dem sie doch eigentlich nichts zu tun haben wollte. Sie ging zu einer der Damengruppen hinüber. Dort war sie zwar nicht sonderlich willkommen, aber immerhin schien sie bei ihnen vor etwaigen Annäherungsversuchen Betrunkener sicher zu sein. Eine Weile blieb sie teilnahmslos neben den Frauen stehen und lauschte deren Gesprächen, in denen es nur ums Heiraten, den richtigen Hausstand, die neueste Pariser Mode und Kinderkriegen ging. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Die von Zigarrenrauch und den Ausdünstungen der Menschen geschwängerte Luft raubte ihr den Atem, und alles um sie herum schien zu verschwimmen. Langsam entfernte sie sich von der Gruppe, die ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben schien, und schlich zum Ausgang.
Draußen empfingen sie milde Sommerluft und das Zirpen der Grillen. Es war noch hell, und der Himmel schimmerte in Orange- und Rottönen. In ihrem Zelt angekommen, entledigte sie sich ihrer Kleider und schlüpfte, nur mit ihrem Hemd bekleidet, unter ihre Decke.
Doch trotz ihrer Müdigkeit konnte sie nicht einschlafen. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte sie die weiße Decke an und hörte nachdenklich den Grillen zu. Entfernte Musik durchbrach deren Gesang, und ab und an liefen Menschen am Zelt vorüber, die sich lachend unterhielten.
Es war seltsam, dachte sie und zog die Decke enger um sich. Heute Morgen in der Kutsche hatte sie sich noch wohl gefühlt, und nur wenige Stunden später waren die Leere und Traurigkeit mit voller Wucht zurückgekehrt, und sie fühlte sich zwischen all den Menschen einsam und allein. Ihr fehlte Anderl. Früher hatte sie sich oft gewünscht, er würde verschwinden, und jetzt sehnte sie sich nach ihm.
Seufzend drehte sie sich zur Seite. Wahrscheinlich würde er bald sterben, weil sie ihn alleingelassen hatte. Sie umklammerte ihre Decke und kniff die Augen zusammen. Doch sie begann trotzdem zu weinen. Das Gefühl von Heimweh kam mit einem Schlag zurück. Sie zogen immer weiter von Rosenheim weg, und bald würden die Berge und der Fluss verschwunden sein. Niemals wieder würde sie in ihrem geliebten Rosengarten sitzen oder bei Pater Johannes in der Küche, doch was am allermeisten weh tat, das war die Tatsache, dass sie ihr Versprechen Anderl gegenüber nicht halten konnte.
Sie wusste, dass Pater Franz für ihn kämpfen und alles dafür tun würde, dass er freikam und ein normales Leben führen konnte. Aber sie selbst konnte nicht für ihn da sein und ihm keinen Trost spenden. Sie hatte ihn alleingelassen. In ihrer Erinnerung sah sie ihn vor sich, auf dem schmutzigen Strohlager, in dem dunklen Kellerloch. Sein flehender Blick würde sie auf ewig verfolgen.
Abrupt setzte sie sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie musste zurück, sofort. Niemals würde sie es sich verzeihen können, dass sie ihn allein zurückgelassen hatte. Wenn sie jetzt aufbrach, dann würden sie erst am nächsten Morgen bemerken, dass sie fort war.
Hastig schlüpfte sie in ihr Kleid und band sich die Haare im Nacken zusammen. Irgendwie würde sie sich schon bis Rosenheim durchschlagen, so weit waren sie ja noch nicht gekommen. Gewiss würde Pater Franz sie wieder im Kloster aufnehmen. Albert würde sich vielleicht ein wenig grämen, aber in den Augen fast aller hier war sie sowieso nicht die richtige Frau für ihn. Gewiss
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