Das Pestkind: Roman (German Edition)
Männer auf den Booten, nur den Wind im Haar und den Fluss zum Gegner und Freund, aber er konnte es nicht, und jetzt wird er vielleicht bald sterben – und ich werde nicht bei ihm sein.«
Ihre Stimme brach. Verzweifelt schluchzte sie auf.
»Ich habe ihm versprochen, dass ich zurückkomme, und jetzt bin ich weit fort und werde ihn nie wiedersehen. Er hat doch nur noch mich.«
Albert stand auf und trat hinter Marianne. Ganz vorsichtig legte er seine Arme um sie. Sie zuckte nicht zurück, ließ es geschehen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, war er doch der Auslöser für ihren Schmerz. Er hätte damals durchaus seinem Bruder die Stirn bieten können, doch er hatte es nicht getan, denn er liebte diese Frau. Vom ersten Augenblick an hatte er es gewusst. Er wollte und konnte nicht mehr ohne sie sein, koste es, was es wolle.
Sie entspannte sich ein wenig.
Leise begann er, ein altes schwedisches Volkslied zu singen. Marianne spürte seinen Atem an ihrem Hals, hörte die fremd klingenden Worte, die sie nicht verstand, und ließ ihre Arme sinken.
Der Fluss verschwand immer mehr in der Dunkelheit, und sie begann, seine Nähe zu genießen, schloss die Augen und hörte ihm zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nicht die Geächtete. Er akzeptierte sie, wie sie war, und es war schön, beschützt zu werden.
Die Fahrt am nächsten Tag in der Kutsche war mehr als unbequem. Es ging über eine holprige Straße, die diese Bezeichnung nicht verdient hatte. Nichts war geblieben von dem wunderschönen Sommerabend des Vortages. Grau war der Morgen heraufgezogen, und es nieselte bereits seit Stunden. Als die Abbauarbeiten beendet waren, war Mariannes Kleid klamm. In eine Wolldecke gehüllt, blickte sie nach draußen und beobachtete, wie eine Schar Gänse auf einem nahen Weiher landete.
Helene und Eugenie, die sich ebenfalls in Wolldecken gewickelt hatten, waren – im Gegensatz zu ihr – bester Stimmung.
Die Französin lächelte Marianne aufmunternd an.
»Schau nicht so missmutig, Marianne. In die Normandie ist die halbe Sommer so eine Wetter.«
Der Begriff Normandie war inzwischen schon mehrfach gefallen. Es musste wunderbar dort sein, jedenfalls wenn man den Worten der Französin Glauben schenkte.
»Die feuchte Nebel zieht immer über die Meer.«
Marianne seufzte innerlich. Bereits mehrfach hatte Eugenie versucht, das Meer zu beschreiben: Unmengen von Wasser und viele große Schiffe, die weitaus größer waren als die auf dem Inn, fuhren darauf in ferne, fremde Länder.
Unter fernen, fremden Ländern konnte sich Marianne allerdings genauso wenig vorstellen wie unter dem Meer oder der Normandie. Und dass man mehrere Tage auf einem Boot zubringen konnte, ohne Land zu erblicken, konnte sie kaum glauben. Jeder See, jeder Fluss und Bachlauf hatte ein Ufer, das man sehen konnte.
Helene mischte sich in das Gespräch ein.
»Also bei uns zu Hause in Offenburg waren die Sommer bei weitem nicht so kalt und feucht, aber Nebel hatten wir auch oft.«
Marianne blickte auf. Sie mochte es, wenn Helene, die sie inzwischen ins Herz geschlossen hatte, von ihrer Heimat, die im Badischen lag, erzählte.
»Der Nebel zog immer vom Fluss herauf. Es gab Tage, da schien draußen bei uns auf dem Hof die Sonne, und in den verwinkelten Gassen am Hafen war alles grau und düster.«
»Erzähl mir noch einmal, wie die Häuser aussehen«, bat Marianne, deren schlechte Stimmung verflogen war.
Helene lächelte.
»Die Städte sind anders als Rosenheim. Wir haben Fachwerkhäuser, die dicht an dicht stehen. Die Häuser sehen sehr hübsch aus mit ihren roten Balken und den schiefen Giebeln. Doch in der Dunkelheit kann es in den verwinkelten Gassen gefährlich werden. Huren, Diebe, Gauner und Halsabschneider treiben sich dann dort herum.«
Marianne hing an ihren Lippen, denn jedes Mal, wenn Helene von zu Hause erzählte, hörte sich die Geschichte anders an.
Am Abend saß Marianne bei Milli vor dem Wagen. Eigentlich sollte sie nicht hier sein, Helene würde sie bestimmt schon suchen und bald hier auftauchen.
Im Laufe des Tages hatte es sich aufgehellt, und jetzt schien die Sonne. Allerdings wurden die Schatten bereits länger, und das Licht auf den Wiesen und Feldern nahm die rotgoldene Färbung eines frühen Sommerabends an.
Milli lief geschäftig um Marianne herum, rückte Tische und Bänke zurecht, räumte Becher und Krüge aus ihrem Wagen und baute diese auf ihrer improvisierten Ausschanktheke auf, die aus zwei breiten
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