Das Pestkind: Roman (German Edition)
beim Würfeln oder dem Kartenspiel brauchte es sowieso keine Worte. Diese Regeln kannten alle, woher sie auch immer kamen.
Helene stand vor dem winzigen Spiegel und bürstete ihr offenes Haar. Auf ihrer Stirn funkelten Schweißperlen.
»Diese Hitze«, jammerte sie. »Es ist kaum auszuhalten. Wir werden heute Nacht wieder kein Auge zutun.«
Marianne antwortete nicht darauf. Sie war in Gedanken noch immer bei Albert im Kaminzimmer. Helene drehte sich zu ihr um.
»Stimmt etwas nicht, meine Liebe?« Sie musterte Marianne genauer.
»Du siehst so blass aus. Geht es dir gut?«
Marianne wich Helenes Blick aus.
»Gewiss ist es das Wetter.«
Helene trat näher an sie heran und begutachtete ihr Gesicht genauer, legte sogar ihre Hand auf Mariannes Stirn.
»Nein, Fieber hast du nicht.«
Marianne musste lachen.
»Mir geht es gut, wirklich.« Sie schob die Freundin zur Seite.
»Nur das Korsett stört mich mal wieder. Ich wünsche mir, ohne dieses Ding zu sein. Bei dieser Hitze ist es noch unerträglicher als sonst.«
Helene drehte ihre Haare am Hinterkopf auf, griff nach einer Haarnadel und steckte die Rolle fest.
Entrüstet zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ohne Korsett gehen schickt sich nicht. Jede feine Dame trägt eines, ob es ihr gefällt oder nicht.«
Sie steckte sich eine weitere Haarnadel in ihre Frisur, begutachtete zufrieden ihr Werk und rundete es mit einer silbernen Spange, die die Form einer Blüte hatte, ab.
»Und wenn ich gar keine feine Dame sein möchte?«, fragte Marianne.
Helene drehte sich um.
»Du musst froh sein, wenn du eine wirst.«
Beim Abendessen war Marianne noch immer aufgewühlt und versuchte, nicht in Alberts Richtung zu blicken. Die stickige Luft setzte ihr mehr als sonst zu, und sie bekam keinen Bissen herunter.
Obwohl die Fenster geöffnet waren, kam kaum Luft in den Raum. Marianne trug ein dünnes hellblaues Leinenkleid, das an den Ärmeln mit Spitzenbordüren besetzt war. Der Stoff war luftig, und doch rann ihr der Schweiß die Beine hinunter, und das Korsett drückte ihr die Luft ab. Heute hatte es Helene besonders gut gemeint und die Schnüre so fest zugezogen, dass ihr sämtliche Rippen schmerzten.
Bernhard, ein dicker Mann, der bereits in die Jahre gekommen war, spielte die Laute und sang dazu ein trauriges Lied in sächsischem Dialekt. Marianne hörte ihm gern zu. Sie mochte den wundersamen Mann, der stets bunte Pluderhosen und Absatzschuhe trug. Jeden Abend erzählte er in dem großen Saal, in dem das Abendessen eingenommen wurde, mit seiner warmen Stimme lustige Geschichten aus seiner Heimat, Begebenheiten aus dem Krieg und sonstige Dinge, die ihm gerade so in den Sinn kamen. Er war ein wenig wie Otto, der Geschichtenerzähler, nur musikalischer.
Die meisten Anwesenden lauschten der Musik. Man unterhielt sich leise murmelnd.
Anna Margarethe Wrangel war blass und wedelte sich mit einem Fächer Luft zu. Sie hatte Marianne seit dem Tag ihrer Ankunft keines Blickes mehr gewürdigt, was Marianne nicht unrecht war. Die Generalsgattin war in ihren Augen eine überhebliche, selbstgefällige Frau, die in einer Scheinwelt aus Luxus lebte, die ihr Mann ihr durch Plünderungen, Raub und Brandschatzung geschaffen hatte. Albert saß direkt neben seinem Bruder und unterhielt sich mit Claude, den Marianne inzwischen näher kennengelernt hatte und als sehr angenehm und höflich empfand. Hin und wieder zwinkerte Albert ihr lächelnd zu. Marianne freute sich jedes Mal darüber, und auch wenn sie es sich selbst noch immer nicht eingestehen wollte, begann sie, ihren Zukünftigen mehr und mehr zu mögen.
Als die Mahlzeit kurze Zeit später beendet war, zogen sich die meisten Damen in ihre Zimmer zurück. Auch Marianne folgte Helene in ihre stickige Dachkammer, in der bereits Eugenie und die anderen beiden Mädchen für Chaos sorgten.
Helene setzte sich auf ihr Strohlager und nestelte an den Fäden ihres Kleides herum.
»Diese Schwüle. Ich halte es bald nicht mehr aus. Sogar das Öffnen der Fenster hilft nicht.«
Marianne zog ihr Kleid aus und machte sich sofort daran, die Schnürung ihres Korsetts zu lösen. Erleichtert ließ sie das störrische Ding zu Boden gleiten und entledigte sich danach ihrer feuchten Strümpfe.
Eugenie bürstete am offenen Fenster ihr Haar.
»Und das Mücken sind überall.«
»Die Mücken«, verbesserte Helene. Eugenie zuckte mit den Schultern.
»Dann eben die Mücken. Seht nur. Ich bin« – sie stockte – »wie sagt man?«
»Ganz zerstochen«,
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