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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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Farbe der Wangen. Genauso war es hier auch. Doch diese Bilder hatten noch etwas anderes an sich. Im Gegensatz zu den Gemälden in der Kirche, die bedeutend prunkvoller und aufwendiger gestaltet worden waren, lebten diese und hatten eine Seele. Was auch immer aus den Menschen, den Kindern geworden war, sie hatten gewiss hier in diesem Haus gelebt, bis die Schweden kamen und ihr Leben zerstörten. Was genau geschehen war, wollte sie lieber nicht wissen.
    »Sie sind zauberhaft, nicht wahr?«
    Erschrocken drehte sich Marianne um. Albert stand in der Tür und lächelte sie an.
    Wie ertappt blickte sie zu Boden. Er trat näher und ließ seinen Blick über die Bilder schweifen.
    »Eine der Mägde wollte sie fortschaffen, aber ich habe sie zurückgehalten. Die Bilder sind mehr als gut.«
    Marianne nickte schweigend.
    Albert neigte den Kopf zur Seite und musterte sie. Seine Zukünftige sah etwas mitgenommen aus. Ihr Haar wirkte zerzaust, und einige Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, fielen ihr ins Gesicht. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen, und ihre Wangen waren gerötet. Trotzdem war sie hübsch. Er fand sie jetzt sogar noch schöner, als wenn sie zurechtgemacht war. Er mochte es nicht, wenn sich die Mädchen Farbe ins Gesicht malten und zu viel Schmuck trugen.
    Er trat neben sie und nahm eines der Bilder in die Hand. Wehmütig blickte er darauf.
    »Jeden Tag frage ich mich, was aus ihnen geworden ist.«
    Verwundert sah sie ihn an.
    »Du denkst, sie sind alle tot, oder?«, fragte er.
    Marianne deutete ein Nicken an.
    Er sah ihr in die Augen und stand so dicht bei ihr, dass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Sie wich zurück.
    »Glaube mir, wenn ich es entscheiden könnte, dann würde es diesen Krieg nicht geben. Zu viele sind gestorben, zu viel Leid ist geschehen – geschieht immer noch. Aber ich kann es genauso wenig ändern wie du. Wir sind nur ein Teil des Ganzen und schwimmen mit.«
    Er strich sanft über ihren Handrücken, nur ganz kurz, aber es reichte aus, damit sich das Kribbeln in Mariannes Bauch verstärkte.
    »Ich hoffe trotzdem, dass du ein Teil von mir werden möchtest.«
    Marianne riss die Augen auf.
    »Wieso möchte?« Wut stieg in ihr auf. Diese Frage klang für sie wie blanker Hohn. Als würde es hier irgendjemanden kümmern, was sie wollte. »Ich werde doch nicht gefragt. Geraubt habt Ihr mich und mir meine Heimat entrissen.«
    Tränen stiegen in ihre Augen, und sie rannte aus dem Raum.
    Er folgte ihr nicht. Traurig blieb er am Kamin stehen und blickte auf das Bild in seinen Händen. Es zeigte ein Mädchen, kaum älter als acht Jahre. Die Kleine trug ein feines Kleid und zwei Zöpfe, eine Schleife im Haar. Sie sah ihn streng an. Seufzend stellte er das Bild auf den Kaminsims zurück.
    »Und ich dachte, sie könnte mich irgendwann gernhaben. Ich habe mich wohl geirrt.«
     
    Wenige Stunden später saß Marianne neben Helene in ihrer kleinen Dachkammer und steckte ihr Haar hoch, denn bald würde es Abendessen geben. Der kleine Raum besaß nur zwei winzige Fenster, und da er direkt unter dem Dach lag, war es heiß und stickig. Überall zwischen den einzelnen Strohmatratzen und Betten standen Kleidertruhen. Schranktüren waren geöffnet, doch selten räumte jemand etwas hinein. Kleider, Hemden, Strümpfe, Decken und Kissen bedeckten den Fußboden. Die Einzige, die hier ein wenig Sinn für Ordnung hatte, war Marianne selbst, die jeden Abend ihre Sachen ordentlich zusammengelegt am Ende ihres Lagers aufschichtete oder auf der Wäscheleine am Fenster zum Trocknen aufhängte. Der Juli begann genauso, wie der Juni geendet hatte. Feuchte und kühle Phasen wechselten sich mit schwülwarmem und gewittrigem Wetter ab. Im Haupttross, der vor der Stadt lagerte, waren Durchfallerkrankungen bereits an der Tagesordnung. Marianne wünschte sich trotzdem in die weitläufige bunte Zeltstadt außerhalb der Stadtmauern zurück. Milli fehlte ihr. Sie mochte die praktisch veranlagte und herzliche Frau, die für jeden ein offenes Ohr hatte. Sie verstand nicht immer alles, was Milli sagte, besonders wenn sie in ihren Dialekt verfiel, aber inzwischen hatte sich Marianne an die vielen unterschiedlichen Sprachen und Ausdrucksweisen der Menschen gewöhnt, wusste damit umzugehen und hatte ihre Schüchternheit abgelegt. Ob Hessisch, Böhmisch, Schwäbisch, Sächsisch, Französisch oder Schwedisch – jeder gab sich Mühe, dass sie ihn verstand. Oft unterhielten sich die Leute heftig gestikulierend, und

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