Das Pestkind: Roman (German Edition)
Fenster.
»Was mit dem Knaben passiert, entscheide nicht nur ich. Die Gerichtsbarkeit muss zusammentreten. In der letzten Zeit war dies kaum möglich. Wie Ihr wisst, liegt der ehrenwerte Richter Bichler seit Wochen krank darnieder. Sobald er sich wieder erholt hat, werden wir den Prozess ansetzen, vorher nicht.«
Verdutzt sah Josef ihn an.
»Aber andere Urteile werden doch auch vollstreckt.«
Er deutete auf den Marktplatz.
August Stanzinger drehte sich um.
»Ich habe Euch nicht die Rosenheimer Gerichtsbarkeit zu erklären, und Anton Bichler ist ein alter Freund von mir, bei ihm kann ich mich darauf verlassen, dass der Prozess zu meinen Gunsten ausgeht. Ihr wisst genauso gut wie ich, auf welch wackeligen Beinen unser Zeuge steht. Nicht jeder Richter glaubt einem dahergelaufenen Knaben, der noch grün hinter den Ohren ist. Und wir dürfen auch nicht vergessen, welchen Fürsprecher Anderl hat, denn Pater Franz ist nicht zu unterschätzen.«
Josef seufzte. Vor dem Mönch hatte er Respekt. Der unscheinbare Mann in der braunen Kutte entwickelte sich immer mehr zu einem gefährlichen Gegner, den er oft dabei beobachtete, wie er um die Brauerei schlich. Er wusste, nach wem er Ausschau hielt. Gewiss hatte er Margit nicht gern beseitigt, aber Opfer gab es immer wieder. In dem alten Brunnen würde niemals jemand Margits Leiche vermuten. Mit Grausen dachte er an den Moment zurück, als ihr Körper dort unten aufgeschlagen war und ihr Schrei verstummte.
»Und Ihr denkt, dieser Anton Bichler wird ihn auf jeden Fall verurteilen, egal, was der Mönch sagt?«
August nickte.
»Er vertraut mir voll und ganz. Wenn ich sage, der Junge ist schuldig, dann wird er ihn auch verurteilen, und da können zehn Mönche kommen und für ihn Fürsprache halten.«
Josef seufzte erleichtert.
»Und was ist mit dem Bürgermeister? Immerhin ist er ein unangenehmer Zeuge.«
August Stanzinger verdrehte die Augen.
»Das habe ich Euch doch bereits gesagt. Der Bürgermeister wird niemals reden, denn er hat seinen Ruf zu verlieren.«
Josef Miltstetter blickte den Büttel abschätzend an.
»Das will ich doch hoffen. Denn sonst …«
Er machte eine eindeutige Handbewegung.
August Stanzinger schüttelte den Kopf.
»Ich war schon beim alten Theo dagegen, und auch bei Hedwig hätte ich es lassen sollen. Das war ein großer Fehler.«
Josef grinste verächtlich.
»Ihr werdet schon noch sehen, was Ihr alles tun oder lassen werdet.« Er öffnete die Tür und ballte seine Faust.
»Denn ich habe Euch in der Hand, vergesst das nicht.«
*
Pater Franz stand auf der winzigen Innfähre und blickte auf die andere Seite des Ufers. Der Inn führte noch immer viel Wasser, wanderte aber langsam in sein Flussbett zurück. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, es war heiß, und Mückenschwärme summten über das leuchtend grüne Wasser.
Der Fährmann, Willi Gruber, war ein alter Freund von ihm. Die beiden verständigten sich meist nur mit knappen Worten, doch heute sprach Willi ihn an.
»Ihr wirkt müde, mein Freund. So kenne ich Euch gar nicht. Wo ist der Mann geblieben, der stets Herr der Lage ist? Ganz Rosenheim sieht in Euch einen Helden, und Ihr seht traurig und niedergeschlagen aus. So oft wie in der letzten Zeit seid Ihr noch nie über den Fluss gefahren. Und jedes Mal erscheint es mir, als würden Eure Schultern eine noch größere Last tragen.«
Pater Franz versuchte zu lächeln und setzte sich auf eine der schmalen Holzbänke, die am Rand der Fähre angebracht waren.
»Ich weiß auch nicht«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich werde als Held gefeiert. Alles winkt mir fröhlich zu, und ich fühle mich, als hätte ich meine Seele dem Teufel verkauft.«
Der Fährmann sah ihn verwundert an.
»Aber Ihr habt doch getan, was getan werden musste. Wrangel hätte Rosenheim niedergebrannt, hätte geraubt und getötet. Ihr wisst, was in anderen Dörfern passiert ist, was noch immer passiert. Nicht weit von hier ist Wrangels Tross, der alles um sich herum verschlingt und Tod und Verderben bringt. Ihr habt Rosenheim gerettet, darauf solltet Ihr stolz sein, anstatt Euch zu grämen.«
Pater Franz nickte. Das andere Ufer kam in Reichweite. Was wusste der alte Willi schon, dachte er, während der Fährmann das Seil am Steg festmachte. Der Wurm, wie der Tross der Schweden hier überall genannt wurde, war inzwischen weit fort. Irgendwo kurz vor Landshut, das wusste er, denn Briefe von Klöstern aus dem Norden hatten ihn
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