Das Pestkind: Roman (German Edition)
dass es so lang gutging.«
Pater Franz nickte. Er selbst zählte bereits über fünfzig Jahre. Viele erreichten mit Glück die vierzig. Pfarrer Angerer musste bereits über siebzig Jahre alt sein.
Der Pfarrer musterte seinen alten Freund und Weggefährten etwas genauer. Ihm blieb nicht verborgen, dass sich der Abt verändert hatte. Sein Gesichtsausdruck wirkte verbittert, und seine Augen hatten diesen besonderen Ausdruck, der einem das Gefühl gab, dass es immer irgendwie weitergehen würde, verloren.
»Was treibt Euch zu uns nach Kieling«, fragte er neugierig.
»Wenn ich das so genau wüsste.« Pater Franz zuckte mit den Schultern.
Pfarrer Angerer blickte über den Weiher zum Haupthaus.
»Es sind doch nicht etwa die alten Gespenster, die Euch eingeholt haben?«
»Vielleicht ein wenig.« Pater Franz begann, Grashalme auszureißen.
Der Pfarrer sah ihm eine Weile schweigend zu.
»Sie ist fort«, flüsterte Franz irgendwann leise. Zum ersten Mal, seit Marianne gegangen war, stiegen ihm Tränen in die Augen. Wie ein dicker Kloß saß der Kummer plötzlich in seinem Hals und bahnte sich seinen Weg nach oben.
Angerer sah seinen Freund verwundert an. So emotional kannte er ihn gar nicht. Schwäche hatte Pater Franz niemals offen gezeigt.
»Warum ist sie fort?« Pfarrer Angerer musste sich nicht erkundigen, um wen es ging. Es gab nur einen Menschen, der dem Abt so viel bedeutete.
In seiner Erinnerung sah er die Kleine vor sich sitzen, in dem Verschlag, hinten im Stall. Sie war so zerbrechlich gewesen, voller Angst und doch tapfer. Oft hatte er Marianne danach im Kloster gesehen und sich daran erfreut, wie sie größer wurde. Sie hatte ihm einmal sogar aus der Bibel vorgelesen, was ihn fast ein wenig stolz gemacht hatte.
In den letzten Jahren war er nicht mehr ins Kloster gegangen. Die Gicht in den Beinen plagte ihn zu arg, und seitdem ihm das Atmen so schwerfiel, verließ er nur noch selten sein Haus. Die Bienen waren der einzige Grund, warum er manchmal noch hierherkam. Er hatte Freude daran, sich um das Insektenvolk zu kümmern, und genoss es, sich tagtäglich den kleinen Luxus von gesüßtem Tee und Haferbrei zu gönnen.
Pater Franz fuhr sich verzweifelt durchs Haar und sah seinen Freund ernst an.
»Weil ich nicht genug auf sie geachtet habe. Allein habe ich sie gelassen und habe mich nicht ordentlich um sie gekümmert. Jetzt ist sie fort, irgendwo im Tross der Schweden, und ich bin schuld daran.«
Pfarrer Angerer sah den Abt verwundert an.
»Im Tross der Schweden? Aber warum denn?«
Pater Franz erzählte die ganze Geschichte, und die Augen des Pfarrers wurden immer größer.
»Ein Schwede, der sich in ein bayerisches Mädchen verguckt.« Pfarrer Angerer schüttelte den Kopf, und plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Und dabei war sie noch vor wenigen Wochen so verzweifelt gewesen und hatte nicht gewusst, wohin.« Pater Franz sah ihn verwundert an.
»Das ist eigentlich eine Geschichte für Minnesänger. Niemand kann sich so etwas ausdenken, oder? Sie muss ihn sehr beeindruckt haben.«
Von dieser Seite hatte Pater Franz es noch gar nicht betrachtet. Wenn er es genau nahm, hatte er Marianne niemals wirklich als Frau gesehen. In seinen Augen war sie immer noch ein Kind.
»Aber ich hätte das nicht tun dürfen«, sagte er verzweifelt. »Ich habe sie wie eine Ware eingetauscht.«
Pfarrer Angerer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es ihr Schicksal.« Er legte Franz väterlich die Hand auf die Schulter. »In Rosenheim hat sie es nie leicht gehabt. Wer hätte sie denn hier jemals geheiratet? Am Ende findet sie dort ihr Glück. Wir mögen den Wurm als grausam empfinden, aber im Grunde sind es auch nur Menschen, die in diesen Zeiten ums Überleben kämpfen. Vielleicht findet sie dort die Anerkennung, die ihr zusteht. Sie ist erwachsen geworden. Ihr könnt sie nicht immer vor allem bewahren, denn jeder von uns hat seine Bestimmung.«
Pater Franz blickte nachdenklich über den Weiher, auf dem ein Blesshuhn zwischen den Seerosen schwamm.
»Von dieser Seite habe ich die Dinge noch gar nicht betrachtet. Ich dachte immer, ich hätte sie in ihr Unglück ziehen lassen.«
»Manchmal kann es nicht schaden, über seinen Kummer zu sprechen.« Pfarrer Angerer erhob sich. Ein erneuter Hustenanfall erschütterte seinen hageren Körper. Franz stützte ihn und gab ihm seine Wasserflasche. Nach Luft japsend, trank der Priester einen Schluck.
»Ich begleite Euch lieber noch ein Stück.« Der Abt
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