Das Pesttuch
Sie schleuderte uns wüste Beleidigungen ins Gesicht, befahl uns wegzugehen, und gab uns alle möglichen schlimmen Namen, die ich hier nicht nennen möchte.
In diesem Zustand wollte ich weder sie zurückla s sen noch das Mädchen Faith bei ihr. »Stiefmutter«, sagte ich ruhig, »ich bitte dich, lass mich das Kind ein, zwei Tage zu mir nehmen, bis du wieder bei Kräften bist.«
»O nein, du hinterhältige Hure!«, plärrte sie, w o bei sie sich wie verrückt an das erschreckte kleine Mädchen klammerte. »Die Pocken über dich und deine listigen Pläne! Du denkst, ich weiß es nicht?« Sie dämpfte ihre Stimme und starrte mich an. »Du denkst, ich kann dich nicht durchschauen? Du bist doch längst nicht mehr meine Stieftochter. O nein! Für eine wie mich bist du dir doch viel zu fein. Ihr Geschöpf bis du«, sagte sie und deutete mit einem zittrigen Finger auf Elinor. »Diese Trockenfotze, di e se unfruchtbare Vogelscheuche will mir auch noch mein letztes Kind stehlen, stimmt’s?« Elinor zuckte zusammen. Unter ihrer natürlichen Blässe war sie kalkweiß geworden, und sie umklammerte eine Stuhllehne, als spürte sie eine Ohnmacht nahen.
Wieder wurde Aphras Stimme lauter. Die Worte stolperten so rasch von ihren Lippen, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Darauf seid ihr aus, ich weiß das. Ich weiß, wie’s wird. Ich lass mich doch nicht von euch bei meiner eig’nen Tochter anschwä r zen. Ich lass nicht zu, dass ihr eure Lügen die Ohren voll stopfen.«
Mir war klar, dass Aphras Erregung Faith nur noch mehr verwirrte. Ich gab Elinor ein Zeichen, und wir gingen fort. Leider war trotz all unserer Bem ü hungen kein friedlicher Abschied möglich. Die Fl ü che flogen uns sogar noch hinterher.
Den ganzen Vormittag sorgte ich mich um das Kind. Obwohl Faith schon drei Jahre alt war, hatte ich sie noch kein einziges Wort sprechen gehört. O f fensichtlich verstand sie aber, was man zu ihr sagte, sonst hätte ich sie für taub oder einfältig gehalten. Stattdessen war ich allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass Angst bei ihr den Willen zum Sprechen hatte schwinden lassen. Angst vor meinem Vater, als er noch lebte, und seitdem Angst vor Aphras mer k würdigem Verhalten. Nachmittags machte ich mich erneut auf den Weg zur Hütte, mit einem großen E s senskorb und mehr Salben für Aphras offene Wu n den. Sie weigerte sich, mir die Tür zu öffnen, und beschimpfte mich aufs Übelste, bis ich schließlich das Essen auf der Türschwelle stehen ließ und for t ging. Am nächsten Tag lief es wieder so ab, und am übernächsten auch. Jeden Tag stand Faith mit weit aufgerissenen, ernsten Augen stumm am Fenster und betrachtete mich, während ihre Mutter Flüche von sich gab, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Aber als ich am dritten Tag im Vorgarten stand, sah ich das Kind nicht. Und als ich Aphra fragte, wo Faith sei, war ihre einzige Antwort ein durchdri n gend hoher Klagegesang in einer mir völlig unb e kannten Sprache.
Daraufhin ging ich heim und besuchte meine Nachbarin Mary Hadfield. Ich bat sie inständig, an meiner Stelle zu Aphra zu gehen und zu versuchen, ob jemand mehr ausrichten könnte, der ihr weniger nahe stand.
»Anna, diese Bitte gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Diese Aphra hat versucht, sich als Kreatur des Teufels auszugeben. Wenn sie schon nicht einmal die Hilfe will, die ihre eigene Stieftochter anbietet, dann soll sie meinetwegen der Teufel holen.«
Ich flehte sie an, doch an das Kind zu denken, das unschuldig in Gefahr war. Bei diesen Worten übe r legte sie es sich noch einmal und stimmte meiner Bitte zu. Als sie aber wiederkam, hatte sie nicht mehr Erfolg gehabt als ich. Wieder hatte sich Aphra g e weigert, die Tür zu öffnen, und hatte auf die arme Mary eine derart heftige und üble Schimpfkanonade losgelassen, dass diese schwor, nie wieder in die N ä he dieser Hütte zu gehen, Kind hin oder her.
Ich merkte, dass ich meine Sorge um Faith nicht ablegen konnte. Weder am nächsten Tag noch am übernächsten sah ich ein Zeichen von ihr. Deshalb blieb ich am Abend dieses Tages lange auf und machte mich im Dunkeln auf den Weg zur Hütte. Keine Ahnung, was ich zu erreichen hoffte. Vie l leicht, d ass mir die Überraschung, Aphra unvers e hens aus dem Schlaf geweckt zu haben, ein paar Momente gäbe, um mir inzwischen ein gewisses Bild von Faith’ Zustand zu machen.
Aber Aphra schlief nicht. Schon von weitem kon n te ich sehen, dass ein kräftiges Herdfeuer die Hütte von innen
Weitere Kostenlose Bücher