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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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andere Wahl haben wir nicht.« Langsam stand ich auf und hob das Zaumzeug vom Haken. Er wich d a bei nicht zurück. Nur ein Ohr zuckte, als wollte er sagen: Was ist das? Er senkte den Kopf, und ich streifte es ihm möglichst sachte über. Während ich den Riegel zur Stalltüre zurückschob, hielt ich ihn fest, obwohl ich nur allzu gut wusste, dass ich gegen seinen Willen nur wenig Chancen hätte, ihn aufz u halten. Mit geblähten Nüstern warf er den Kopf hoch und sog den ersehnten Grasduft ein. Trotzdem zog und zerrte er nicht, um meine Hand abzuschütteln. Ich lehnte mein Gesicht gegen seinen Hals und sagte mit tiefer Stimme: »Gut, halt noch eine Minute still, dann sind wir fort.«
    Draußen im Hof saß ich ohne Sattel auf, genau wie ich als Kind reiten gelernt hatte. Im Gegensatz zu den damaligen Pferden, alten spatkranken Geschö p fen, war das Gefühl des sattellosen Anteros unter mir eine Überraschung. Er bestand aus einer einzigen geballten Ladung Muskeln. Wenn er gewollt h ätte, hätte er mich binnen einer Sekunde abwerfen kö n nen. Deshalb machte ich mich auf alles gefasst und nahm mir vor, mich so lange anzuklammern, wie es eben ging. Stattdessen tänzelte er ein wenig herum, als er mein Gewicht spürte, wartete aber auf mein Signal. Als ich mit der Zunge schnalzte, ging es in einer geschmeidigen Bewegung vorwärts. Wie eine gelenkige Katze nahm er die Mauer. Ich spürte kaum, wie er wieder aufkam.
    Ich lenkte ihn Richtung Moor, und wir galoppie r ten los. Der Wind riss mir die Haube fort und löste meine Haare, sodass sie wie ein Banner hinter mir her wehten. Im Takt zum mächtigen Hufgetrappel pochte mir das Blut im Kopf. Wir leben, wir leben, wir leben, sagten die Hufschläge, und mein Pul s schlag gab ihnen Antwort. Ich war lebendig, und ich war jung, und ich würde weitermachen, bis ich einen Sinn darin fand. Bei diesem Morgenritt roch ich den Duft des Heidekrauts und spürte den Wind im G e sicht. Ich fühlte mich stark. Während unser gemei n sames Martyrium Michael Mompellion gebrochen hatte, hatte es mich im selben Maße gehärtet.
    Ich ritt nur, um der Bewegung willen, egal, wohin. Nach einer Weile fand ich mich auf einer großen Wiese wieder und merkte, dass es das Feld um den Grenzstein war. Jener Pfad, den wir während unseres Pestjahres so tief ausgetreten hatten, war schon fast wieder zugewachsen. Zwischen den hohen Gräsern war der Stein selbst fast unsichtbar. Mühelos, ganz mühelos ließ ich Anteros zuerst kantern und dann im Schritt am Rande des Vorsprungs entlanggehen, bis ich den Stein mit seinen eingemeißelten Löchern fand. Ich glitt von seinem Rücken. Während er im Stehen geduldig graste, kniete ich nieder, riss rings um den Stein das Gras weg und legte zuerst meine Hände darauf, dann meine Wange dagegen. In vielen Jahren wird sich jemand zum Ausruhen direkt neben diesen Stein setzen und gedankenverloren in diesen Löchern herumfingern, dachte ich. Dann wird ni e mand mehr wissen, w a rum man sie hineingehauen hat oder welch großes Opfer wir hier gebracht haben.
    Ich hob den Kopf. Beim Blick über den Vo r sprung, hinunter nach Stoney Middleton, fiel mir wieder ein, wie gerne ich dort hinabgeflohen wäre. Jetzt band mich kein Eid mehr. Ich nahm die Zügel, stieg wieder auf Anteros, und dann galoppierten wir in hohem Tempo den Hang hinunter und weiter durchs Dorf, kaum weniger schnell, und im gestrec k ten Galopp wieder auf die dahinterliegenden Felder hinaus. Eines weiß ich genau: Die guten Bürger von Stoney Middleton wussten sicher nicht, was sie von uns halten sollten. Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wendete ich Anteros zum Anstieg in unser Dorf zurück. Als wir uns dem Grenzstein n ä herten, verlangsamten wir das Tempo. Das kräftige Pferd fiel in einen erstaunlich leichtfüßigen, ang e nehmen Trab. Als wir zum Pfarrhof kamen, schritt er so gesittet wie ein Kutschenpony.
    Mit großen Schritten trat Michael Mompellion zur Türe heraus. Sein Gesicht wirkte verärgert und u n gläubig. Er rannte zu uns hin und packte das Pferd am Zaumzeug. Seine grauen Augen musterten mich intensiv. Plötzlich wurde mir bewusst, dass es nicht besonders anständig aussah, wie ich so dahergeritten kam: im Herrensitz, den Rock bis über den Unte r rock hochgezogen, bis zur Taille offene Haare, die Haube irgendwo im Moor verloren, mit roten Wa n gen, auf denen der Schweiß glänzte.
    »Hast du denn völlig den Verstand verloren?« Seine Stimme hallte von den Hofmauern

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