Das Pesttuch
wider.
Ich schaute vom hohen breiten Rücken von Ant e ros auf ihn nieder. Zum ersten Mal zuckte ich unter seinem bohrenden Blick nicht zusammen.
» Sie etwa?«, lautete meine Antwort.
Anteros warf den Kopf hoch, als wollte er Michael Mompellions Hand von seinem Zaumzeug abschü t teln. Der Herr Pfarrer starrte zu mir hinauf. Inzw i schen glichen seine Augen blanken Schiefertafeln. Unversehens wandte er den Blick ab, ließ das Pferd los, hob die Hände zum Gesicht und drückte sich die Handballen so fest in die Augen, dass ich dachte, er würde sich selbst verstümmeln.
»Ja«, sagte er schließlich, »ja wahrlich, ich glaube, ich habe tatsächlich den Verstand verloren.« Mit di e sen Worten fiel er auf die Knie, mitten im schmutz i gen Hof. Als ich ihn so zusammenbrechen sah, galt mein Gedanke Elinor, ich schwöre es. Wie ihr sein zutiefst kläglicher Anblick das Herz bräche. Ehe ich noch recht wusste, was ich da tat, war ich schon vom Pferd und nahm ihn in die Arme, wie es sicher auch Elinor getan hätte. Er vergrub seinen Kopf an meiner Schulter, und ich hielt ihn so fest, wie man einen hält, der aus großer Höhe abzustürzen droht. Durch den dünnen Hemdstoff konnte ich seine harten R ü ckenmuskeln spüren. So hatte ich seit über zwei Ja h ren keinen Mann mehr gehalten. Und dann passierte es: Plötzlich durchzuckte mich heftiges Begehren. Ich stöhnte auf. Daraufhin wich er zurück und scha u te mich an. Seine Finger streiften mein Gesicht und wanderten in meine zerzausten Haare, wo er seine Hände in den Strähnen vergrub. Er packte mich fe s ter und zog meinen Mund an den seinen.
In dieser Umarmung fand uns der Stallbursche. Aus Angst, man würde ihm die Schuld an meinem wilden Ausritt geben, hatte er sich in der Sattelka m mer versteckt. Jetzt stand er mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt da. Wir sprangen beide auf und fuhren auseinander, der eine vor die dunkle ma s sige Gestalt von Anteros, der andere dahinter. Aber was er gesehen hatte, hatte er gesehen. Irgendwie brachte ich meine Stimme einigermaßen unter Ko n trolle.
»So, da sind Sie also, Master Richard. Hätten Sie die Güte, sich um Anteros zu kümmern. Er wird Wasser wollen. Außerdem wird er sich meiner Me i nung nach nun wieder einmal bürsten lassen. Sehen Sie zu, dass dies gründlich geschieht.« Keine A h nung, wie ich meine Stimme während all dieser Sä t ze am Zittern hinderte. Mit bebenden Händen übe r gab ich ihm die Zügel und ging dann Richtung K ü che. Ich wagte es nicht, mich umzusehen. Bald da r auf hörte ich, wie die Türe auf - und wieder zuging. Dann Schritte auf der Treppe. Ich presste die Hände gegen die Schläfen und versuchte, ruhiger zu atmen. Schließlich raffte ich meine widerspenstigen Haare zusammen und verknotete sie am Hinterkopf so gut es ging. Gerade als ich mich in der glänzenden Obe r fläche einer herunterhängenden Pfanne betrachtete, um zu sehen, wie mir dies gelungen war, erblickte ich sein Spiegelbild hinter mir.
»Anna.«
Ich hatte ihn nicht wieder die Treppe herunte r kommen gehört. Nun stand er unter der Küchentüre. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber er streckte die Hände aus, ergriff meine Handgelenke – diesmal zärtlich – und hielt mich auf Distanz. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. »Ich weiß mir keine Erklärung für mein Verhalten draußen im Hof. Trotzdem entschuldige ich mich bei dir dafür.«
»Nein!«, unterbrach ich ihn, aber er ließ eines meiner Handgelenke los und legte mir einen Finger auf die Lippen.
»Ich bin nicht bei Sinnen, das weißt du besser als sonst jemand. Du hast in den letzten Monaten ges e hen, wie ich bin. Ich weiß mir keine Erklärung dafür. Eine Beschreibung übersteigt meinen gesamten Wortschatz. Es ist, als herrsche in meinem Kopf ein düsteres Unwetter. Ich kann nicht klar denken. E i gentlich kann ich die meiste Zeit gar nicht denken. Da ist nur dieses Gewicht in meinem Herzen, eine formlose Furcht, die sich als Schmerz entpuppt. Und danach eine noch größere Furcht vor noch mehr Schmerz …«
Ich vernahm kaum seine Worte. Was ich dann tat, wollte er nicht, ich weiß. Aber in mir war ein so sta r kes B e gehren, dass es mir egal war. Ich hob meine Hand zu der Stelle, wo die seine noch immer unb e wegt auf meinen Lippen lag. Dann öffnete ich den Mund und fuhr mit meiner Zunge sachte über seine Fingerspi t ze. Er stöhnte auf. Während ich noch ganz fest an seinem Finger saugte, zog er mich mit der anderen
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